Schattenbruch
sie durch den Türspalt spähte, sah sie den einen oder anderen Südsegler: bleiche Gesichter, auf deren Wangen ein brennendes Schiff tätowiert war, die Augen mit Tüchern verbunden. Oft standen sie im Kreis beisammen und raunten sich Botschaften zu; sie sprachen in Reimen, doch ihre Worte waren stets eine Abwandlung derselben Litanei:
Die Suche, die Suche muß weitergehen …
Dann strömten sie wieder auseinander. Ihr ganzes Wesen hatte etwas Flüchtiges; wenn Jundala sie beobachtete, glaubte sie stets durch eine Glasscheibe zu blicken.
Während sie auf das Wasser starrte, schweiften ihre Gedanken zu Baniter und den Kindern. Würde sie eines Tages zu ihnen zurückkehren? Nein, dies war eine Fahrt ohne Wiederkehr; an die Existenz eines Südkontinents glaubte Jundala nicht, und
die Suche
würde früher oder später auf dem Meeresgrund enden. Von den sechs Schiffen, die aus Vara aufgebrochen waren, hatte bereits eines umkehren müssen, nachdem ein Sturm es leck geschlagen hatte. Die verbliebenen Segler aber steuerten beharrlich gen Süden.
Der Zorn über ihre Machtlosigkeit trieb Jundala Tränen in die Augen. Diese waren groß und dunkelblau, so wie das Meer, und beherrschten das ansonsten unscheinbare Gesicht der Fürstin. Die Trauer der letzten Wochen hatte Spuren hinterlassen; ihre Wangen bleich, der Mund zu einem schmalen Strich geschrumpft. Auch ihr blondes Haar hatte an Glanz verloren; sie hatte es deshalb zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. So stand sie an Deck, lauschte dem Gesang der Silberfänger und haderte mit dem Schicksal.
Wie töricht war es, mich hinter Baniters Rücken an diese Fanatiker zu wenden, als wäre mit ihnen ein Handel möglich. Sinustre hatte ganz recht: Wer sich mit den Südseglern einläßt, sollte wissen, daß sich jede Summe überbieten läßt. Sie hat mich überboten - und mich aus Vara fortschaffen lassen, bevor ich Baniter aus diesem Schlangennest befreien konnte. Glaubt sie tatsächlich, ihn leichter beeinflussen zu können, wenn ich nicht in seiner Nähe bin? Will sie Baniter in die Arme dieser arphatischen Hure führen?
Jundalas Hände krallten sich an der Reling fest.
Königin Inthara will ihn für sich gewinnen; ich habe in diesem Plan gestört. Nun bin ich fern von Vara … ich kann Sinustres Intrige nichts entgegensetzen.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als Schritte erklangen. Der Schiffsknabe schlenderte über das Deck, ein vierzehnjähriger Bursche namens Mhadag, der Jundala stets mit Nahrung und Kleidung versorgte. Er war das einzige Mitglied der Besatzung, das auch tagsüber an Deck zu sehen war; auf seinem Hemd prangte zwar das Abbild des brennenden Schiffes, doch er unterschied sich von den erwachsenen Südseglern. Seine Sprache war klar und verständlich, sein Gesicht - wenn auch von frühreifem Ernst geprägt - nicht tätowiert. Er hatte weiches blondes Haar, und die grünen Augen erinnerten Jundala an ihren Gatten.
»Mhadag … welchen Tag haben wir? Wie lange sind wir nun aus Vara fort?«
»Seit sechzig Tagen.« Mhadag neigte den Kopf. »Meine Gebieter fragen, ob Ihr wohlauf seid. Je weiter wir nach Süden dringen, desto belastender wird die Fahrt für jene, die nicht sehen können.«
»Meine Augen sehen scharf, sei unbesorgt. Was mich belastet, ist der Umstand meiner Entführung - das richte deinen Herren aus.« Jundala hielt inne, ergriff das Kinn des Knaben und zwang ihn, ihr in die Augen zu blicken. »Wo sind sie, die Südsegler? Niemand richtet die Segel nach dem Wind aus, niemand lenkt dieses Schiff. Wohin steuern wir, Mhadag?«
»Zu den Dunklen Warten.« Der Blick des Knaben wirkte verträumt. »Vier Inseln liegen im Südmeer, die Vorboten der kommenden Entdeckung. Vor hundert Jahren sahen einige Südsegler mit an, wie sie aus dem Meer geboren wurden.«
»Es wurde schon lange gemunkelt, daß euer Orden im Südmeer auf eine Inselgruppe gestoßen ist - doch von dem Kontinent, den ihr sucht, fehlt noch immer jede Spur.«
»Er ist nicht mehr fern. Die Dunklen Warte bewachen ihn; bald öffnen sich die Tore.« Mhadag nahm Jundalas Hand und zog sie zur Südseite des Schiffs. »Ich will sie Euch zeigen. Zwar seid Ihr blind, doch in diesen Tagen paßt sich die Wirklichkeit rasch unseren Augen an.«
Er deutete auf das Meer. Tatsächlich war unweit des Schiffs ein Archipel zu erkennen; vier Inseln aus dunklem Gestein, die dicht beieinander lagen. Sie schienen unbewohnt; weder Bäume noch Sträucher wuchsen auf den Felsen, keine Vögel kreisten in der
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