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Schattenbruch

Schattenbruch

Titel: Schattenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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zum Rand mit Wasser gefüllt. Und neben dem Pult stand der König, barfuß, nur mit einer schlichten Robe bekleidet. Tarnac von Gyr hatte die Augen geschlossen, die Arme waren über dem Kopf verschränkt, das linke Bein angewinkelt. Er atmete tief ein und aus, hob den bloßen Fuß und stützte ihn auf das rechte Knie. Dann wechselte er die Stellung, ging in die Knie, die Arme zu einer komplizierten Geste verschränkt. Es war eine Abfolge von Meditationsübungen; in Gyr nannte man sie die Bezwingung des Sturms. Sie umfaßte siebzig Figuren, manche davon einfach zu erlernen, andere kaum zu meistern. Tarnac von Gyr beherrschte sie alle; denn er galt als Nachfahre des Sturmgottes Gharjor, und die Übungen waren eine Form der Verehrung.
    Auf den ersten Blick wirkte der König unscheinbar; er war nicht mehr jung - ein kleiner, magerer Mann, aber sehnig gebaut. Der Schädel war kahlrasiert, was seine schmale Kopfform betonte. Der kräftige Kiefer und das zulaufende Kinn verliehen ihm das Antlitz einer Raubkatze; wenn er lächelte, wirkte sein Blick hungrig. Tarnac richtete sich wieder auf, ließ die Arme herabsinken. Von draußen waren Stimmen zu hören. Sie drangen durch die geöffneten Fenster: Rufe! Dann ein Aufschrei. Und Waffengeklirr, Metall auf Metall. Aus dem Schatten der Tierstatuen lösten sich seine LeibWächter, ein Mann und eine Frau, aschblond. Es waren Igrydes - Geschworene des Königs. Sie wirkten nervös, ihre Hände lagen auf den Griffen ihrer Schwerter.
    »Königlicher Bruder - hörst du das?«
    Tarnac verzog keine Miene, ließ die Augen geschlossen. »Seht nach, was los ist.« Er gab den Befehl mit einer leisen, fast gleichgültigen Stimme. Ohne sich weiter um die Igrydes zu kümmern, versenkte er sich erneut in seine Übung.
    Die Leibwachen zogen ihre Schwerter und stürmten aus der Halle. Die nietenbeschlagene Tür ließen sie offenstehen. Nun waren die Kampfgeräusche deutlicher zu hören: der Tanz der Schwerter, die erregten Rufe der Gyraner, das Aufeinanderprallen von Körpern.
    Tarnac von Gyr wiegte den Kopf hin und her. Sein Atem wurde langsamer, schwerer. Als er die Augen aufschlug, war das Schwerterklirren verklungen. Schritte hallten auf dem Brettersteg, der zur Halle führte. Dann trat eine Frau durch die offene Tür: kurzes rotes Haar, tief schwarze Augen, der Mund ein schmaler Strich. In der Rechten ein Schwert, die Klinge besudelt … und die linke Faust war geballt wie zum Schwur. Ashnada blieb stehen. Sie hatte ihren König sofort erkannt, er hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Und die Spur, die brennende Fußspur … sie führte durch die Halle geradewegs auf ihn zu, Schritt für Schritt für Schritt, bis vor Tarnacs Füße. Rumos hatte die Wahrheit gesprochen: die Flamme hatte sie zu Tarnac von Gyr geführt.
    »Komm«, sagte der König leise, »komm zu mir.«
    Der Knochen in Ashnadas Hand glühte; plötzlich empfand sie seine Hitze als schmerzhaft, doch sie ließ ihn nicht los. Sah Tarnac nur an, und in ihrem Blick lag eine Frage.
Warum? Warum hast du mich verraten … warum ?
Der König schwieg. Dann nahm er die Karaffe vom Pult und setzte sie an die Lippen. Er trank das Wasser mit knappen Zügen, setzte den Krug wieder ab. Nun erst betrachtete er Ashnada eingehend. »Du hast also meine Leute getötet. Das ist erstaunlich. Ich hatte nicht mit einem Angriff gerechnet, schon gar nicht von einer einzelnen Frau.« Er bemerkte, wie sie ihr Schwert fester umfaßte. »Sechs Männer hielten draußen Wache, und zwei Igrydes stellten sich dir in den Weg. Nur eine geübte Schwerthand kann gegen eine solche Übermacht bestehen.«
    »Du erkennst mich nicht«, flüsterte sie. »Du weißt nicht einmal mehr, wer ich bin.« Sie schritt langsam auf ihn zu. »Sieh mich an … sieh mich endlich an«
    Tarnac musterte sie. »Was soll ich in dir sehen? Was, glaubst du, wäre so wichtig an dir, daß ich es erkennen müßte?«
    Seine Gleichgültigkeit machte sie wütend. Ashnada hob die Klinge. »Blut von meinem Blut, Fleisch von meinem Fleisch … das waren deine Worte, all die Jahre lang. Es fühlte sich damals tatsächlich so an: ich glaubte, ein Teil von dir zu sein.« All die Bilder aus Nagyra kamen ihr wieder in den Sinn: die harten Jahre ihrer Ausbildung, die Entbehrungen, der stetige Hunger aufgrund der kargen Kost - und das Gesicht König Tarnacs, der stets in der Nähe der Igrydes geweilt hatte, jeder Blick von ihm eine Ehre, jede Berührung die höchste Auszeichnung.
Meine Schwester, Blut

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