Schattenbruch
Mensch muß weiterziehen, es ist alles vorbereitet für das kommende Zeitalter - und Gyrs Volk wird das erste sein, das den Schritt wagt. Hier auf Vodtiva, süße Schwester, wird alles beginnen; diese Insel wird von den Goldei verschont bleiben und zugleich die größte Umwälzung erfahren, die unserer Welt bevorsteht.«
Sie weinte nun offen, schmiegte sich an ihren König. »Was soll ich tun, königlicher Bruder? Sage es mir, bitte …«
»Du weißt es längst.« Er drückte ihr das Knochenstück zurück in die Hand; es fühlte sich kalt an, seine Glut war vollständig erloschen. »Ich gebe dir ein Schiff, damit du nach Tyran übersetzen kannst. Der Knochen wird dich zu ihm führen, so wie er dich zu mir führte. Und dann - beende es.«
Er ließ sie los. Ringsum steckten die Gyraner ihre Waffen zurück in die Schwertscheiden; Tarnacs Umarmung hatte alle Bedenken zerstreut.
»Gebt ihr ein Schiff und einige Mönche der Solcata zur Begleitung, damit sie Tyran sicher erreichen kann.« König Tarnac verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann kümmert euch um die Galeere. Ich will so bald wie möglich den See Velubar überqueren und das Herz der Quelle finden die Woge der Trauer. Die Stunde des Aufbruchs naht.«
Die Kopfschmerzen … ein bohrender Druck hinter den Schläfen, ein Ziehen und Pochen in ihrem Schädel - und die Augen: sie juckten und tränten, der Blick von Schleiern getrübt. Je länger Jundala Geneder auf die Barke blickte, desto unerträglicher wurden die Schmerzen. Ihre Nähe vernebelte Jundalas Sinne, ließ ihren Kopf fast zerspringen.
Schwer atmend stand die Fürstin auf dem Deck des Schiffs der Südsegler, das seit Tagen zwischen den Dunklen Warten umhertrieb, jenen vier Inseln, die sie im Südmeer entdeckt hatten. Zwischen den insgesamt fünf Schiffen ihres Verbands schwamm die Barke der Schwarzen Erkenntnis; die Südsegler hatten sie mit Seilen an ihren Schiffen vertäut, und sie selbst waren bereits am ersten Tag auf sie übergesiedelt. Seitdem waren sie beschäftigt, hievten Kisten, Fässer, Seile und Segel auf die Barke, arbeiteten Tag und Nacht, ohne Unterlaß. Keiner von ihnen achtete auf Jundala Geneder, die mit Schrecken das Treiben beobachtete.
Was wollten sie hier? Was suchten die Südsegler in diesem entlegenen Teil des Südmeers? Noch immer begriff Jundala nicht, was sie antrieb. Offenbar hatten sie selbst jenes schwarze Schiff gezimmert, aus einem Stoff, der so dunkel war wie die Nacht und fremd wie die Südsegler selbst. Jundala spürte die Magie, die dem schwarzen Metall innewohnte.
Das Licht meidet es, und die Sphäre weicht vor ihm zurück … Welchen Plan verfolgen die Seefahrer? Wohin soll dieses gräßliche Schiff sie tragen ?
Einmal hatte sie Mhadag gebeten, sie zu den Dunklen Warten hinüberzurudern. Sie wollte noch einmal auf festem Boden stehen, Land unter den Füßen spüren. Mhadag hatte sie gewarnt, doch Jundala hatte auf ihrem Wunsch beharrt. So waren Mhadag und Jundala auf einem Beiboot zu einer der Inseln gefahren; ein dunkler Fels inmitten des Meeres, leblos, stumm, seine Küste abweisend. Als das Boot die Klippen erreicht hatte, waren Jundalas Kopfschmerzen stärker geworden.
»Ihr könnt nicht SEHEN«, hatte Mhadag gewispert, während sie zitternd die Hand nach dem Felsen ausgestreckt hatte. »Eure Augen sind verschlossen, so wie die meinen. Wir sind noch nicht bereit.« Dann hatte Jundala das Bewußtsein verloren. Erst auf dem Schiff war sie wieder zu sich gekommen, mit dröhnendem Schädel und pochendem Herzen. Ihre Hand hatte sich taub angefühlt, als wäre sie eingeschlafen. Mhadag hatte neben ihrer Koje Wache gehalten und der Fürstin ein wenig Wasser eingeflößt; als sie ihn schließlich gefragt hatte, was geschehen sei, hatte er nur geantwortet: »Es war zu früh, Herrin.« Seine grünen Augen so unergründlich und voller Rätsel … Nun stand Jundala wieder an Deck und blickte auf die vier Inseln. Die Dunklen Warte schienen ihre Lage stets zu verändern; wenn Jundala die Augen abwand und dann wieder zu ihnen schweifen ließ, war mal die eine, mal die andere Insel in den Vordergrund gerückt. Auch ihre Küstenlinien waren in stetiger Bewegung, wirkten mal glatt und mal rissig, mal matt und mal glänzend doch all dies mochte auch ein Trugbild ihrer Augen sein, die unablässig tränten und schmerzten. Wenn Jundala sie mit einem Seidentuch abtupfen wollte, brannten sie nur noch schlimmer, und das Tuch färbte sich rot. Der Wind blies durch Jundalas Haar.
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