Schattenfall
zerschmetterten Gliedern irgendwo tief im Wald liegen und aus blinden Augen zum Himmel starren. Das habe ich getan… Noch eine schmerzende Lücke, wo noch vor kurzem ein mit Verstand und Gefühl begabter Mensch gewesen war. Welche Taten hätte der namenlose Junge in seinem Leben vollbracht? Was für ein Held wäre vielleicht aus ihm geworden?
Von Kummer überwältigt, wandte Kellhus sich von ihr ab. Als könnte er in emsiger Geschäftigkeit Trost finden, begann er, seine Schlafmatte aufzurollen, die unter dem großen Weidenbaum lag. Dann hielt er inne und sagte, ohne sie anzusehen und mit schmerzerfüllter Stimme: »Du musst das vergessen, Serwë. Dafür haben wir keine Zeit.«
Bei diesen Worten ergriff sie eine tiefe Scham – als hätten sich ihre Eingeweide in kaltes Wasser verwandelt.
Ich habe ihm dieses Verbrechen aufgezwungen, dachte sie und musterte Kellhus, der gerade einen Teil der Ausrüstung am Sattel festband. Einmal mehr betastete sie unwillkürlich ihren Bauch. Das war meine erste Sünde gegen deinen Vater.
»Beginnen wir mit den Pferden der Kidruhill«, rief Cnaiür. »Reiten wir zunächst mal die zu Tode!«
Die ersten beiden Tage entkamen sie ihren Verfolgern recht mühelos, denn sie konnten auf den Schutz der urzeitlichen Wälder an den Quellflüssen des Phayus und auf den kriegerischen Scharfsinn Cnaiürs bauen. Dennoch verlangte die Flucht Serwë viel ab. Tag und Nacht im Sattel zu sitzen, durch steile Schluchten zu ziehen, über steinige Hänge zu galoppieren und die unzähligen, oft reißenden Nebenflüsse des Phayus zu durchqueren, strapazierte ihre Kräfte aufs äußerste. Schon am ersten Abend schwankte sie auf dem Rücken ihres Pferdes hin und her, musste schwer mit der Taubheit in ihren Gliedern kämpfen und vermochte die Augen kaum offenzuhalten, während Cnaiür und Kellhus zu Fuß vorangingen. Sie schienen unermüdlich, und Serwë ärgerte sich maßlos darüber, so schwach zu sein.
Am Ende des zweiten Tags erlaubte Cnaiür ihnen, ein Lager aufzuschlagen, denn er nahm an, sie hätten nun alle Verfolger, die ihnen auf den Fersen gewesen sein mochten, abgehängt. Zwei Umstände, so sagte er, seien ihnen günstig: die Tatsache, dass sie nach Osten reisten, obwohl sich jede Plündererschar der Scylvendi nach einem Scharmützel mit den Kidruhil gewiss zum Hethanta-Gebirge zurückziehen würde, und die Tatsache, dass er und Kellhus so viele Soldaten hatten töten können, als ihnen das unerhörte Missgeschick widerfahren war, bei der Jagd nach dem Jungen auf eine Reiterpatrouille zu treffen. Serwë war viel zu erschöpft, um zu erwähnen, auch sie habe einen Mann getötet, rieb sich stattdessen nur das verkrustete Blut vom Unterarm und war doch überrascht, dabei intensiven Stolz zu empfinden.
»Die Kidruhil sind überhebliche Dummköpfe«, fuhr Cnaiür fort. »Elf Tote haben sie bestimmt davon überzeugt, dass sie es mit einer großen Plündererschar zu tun haben. Also sind sie bei der Verfolgung vorsichtig und fordern Verstärkung an. Selbst wenn sie auf unsere nach Osten weisende Fährte stoßen sollten, werden sie an eine List glauben, unserer Spur nach Westen zum Gebirge folgen und hoffen, so unserer Hauptschar auf die Schliche zu kommen.«
An diesem Abend aßen sie rohen Fisch, den Cnaiür mit dem Speer in einem nahen Bach erbeutet hatte. Trotz ihres Hasses musste Serwë feststellen, dass sie die Verbundenheit des Häuptlings mit der Natur bewunderte. Für ihn schien es hier draußen unzählige Hinweise und Herausforderungen zu geben. Er konnte aus dem Auftauchen und dem Gesang bestimmter Vögel auf die Beschaffenheit des Geländes vor ihnen schließen und die Anspannung der Pferde dadurch lindern, dass er ihnen bestimmte Pilze zu fressen gab, die er aus der Erde gescharrt hatte. Sie begriff, dass weit mehr in ihm steckte als nur ein Mörder und Vergewaltiger.
Während Serwë über ihre Fähigkeit staunte, Dinge zu essen, bei denen sie sich in ihrem früheren Leben sofort hätte übergeben müssen, erzählte Cnaiür den beiden Erlebnisse von seinen vielen Raubzügen ins Kaiserreich. Die westlichen Provinzen Nansurs, so berichtete er, böten ihnen die einzige Hoffnung, ihre Verfolger abzuschütteln, denn diese Gegenden seien wegen der von seinen Landsleuten angerichteten Verwüstungen schon lange verlassen. Viel gefährlicher würde es für sie in den großen Anbaugebieten am unteren Phayus werden.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Serwë, warum die beiden Männer diese
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