Schattenfall
Reise riskieren mochten.
Bei Tageslicht nahmen sie ihren Marsch wieder auf und wollten bis spät in den Abend auf den Beinen bleiben. Noch am Morgen brachte Cnaiür ein junges Reh zur Strecke. Serwë hielt das für ein gutes Omen, obwohl ihr die Aussicht, rohes Wild zu essen, nicht behagte. Sie hatte festgestellt, dass sie ständig hungrig war, aber aufgehört, darüber zu reden, als der Scylvendi ein finsteres Gesicht gemacht hatte. Doch gegen Mittag kam Kellhus neben sie geritten und sagte: »Du hast doch bestimmt wieder Hunger, oder?«
»Woher weißt du so was?«, fragte sie. Es fesselte sie jedes Mal, dass er ihre Gedanken erriet, und der Teil von ihr, der größte Stücke auf ihn hielt, sah sich dadurch nur bestärkt.
»Seit wann ist das schon so, Serwë?«
»Seit wann ist was so?«, fragte sie mit plötzlicher Unruhe.
»Seit wann bist du schwanger?«
Es ist doch dein Kind, Kellhus! Deines!
»Aber wir haben doch noch gar nicht miteinander geschlafen«, sagte er sanft.
Serwë war plötzlich erstaunt und unsicher, was er damit gemeint haben mochte, noch unsicherer aber darüber, ob sie laut gesprochen hatte. Aber natürlich hatten sie miteinander geschlafen. Sie war schließlich schwanger! Wer sonst sollte der Vater sein?
Tränen traten ihr in die Augen. Kellhus… Willst du mir etwa weh tun?
»Natürlich nicht«, antwortete er. »Es tut mir leid, süße Serwë. Wir legen sehr bald eine Essenspause ein.«
Sie starrte auf seinen breiten Rücken, als er nach vorn zu Cnaiür ritt. Sie war es gewohnt, die kurzen Wortwechsel der beiden zu beobachten, und zog ein wenig Befriedigung aus den Momenten des Zögerns, ja der Qual, die Cnaiürs vom Wetter gegerbte Miene dann und wann einen Sprung bekommen ließen.
Doch diesmal hatte sie allen Grund, Kellhus anzusehen, bemerkte, wie die Sonne durch sein blondes Haar schien, und beobachtete seine üppigen Lippen und das Glitzern seiner allwissenden Augen. Er schien ihr fast schmerzlich schön – wie jemand, der für kalte Flüsse, nacktes Gestein und knorrige Bäume einfach zu strahlend war. Er schien…
Serwë hielt den Atem an und fürchtete einen Moment lang, ohnmächtig zu werden.
Ich hab es nur gedacht, aber er weiß es trotzdem.
»Ich bin die Verheißung«, hatte Kellhus gesagt, als sie an die Straße mit den Schädeln der Scylvendi gekommen waren.
Unsere Verheißung, flüsterte sie dem Kind in ihrem Bauch zu. Unser Gott.
Aber war das denn möglich? Serwë hatte unzählige Geschichten darüber gehört, dass die Götter vor Jahrtausenden – damals, in der Frühzeit des Stoßzahns – in Menschengestalt mit Menschen verkehrt hatten. So stand es in den heiligen Schriften, und deshalb war es wahr. Unmöglich dagegen, dass heutzutage ein Gott in der Welt unterwegs war und sich ausgerechnet in sie verliebte, in Serwë, die ans Haus Gaunum verkaufte Tochter. Aber vielleicht war ja gerade das der Sinn ihrer Schönheit und auch der Grund, warum sie die Gier so vieler Männer über sich hatte ergehen lassen müssen. Auch sie war zu schön für diese Welt und erwartete die Ankunft ihres Bräutigams.
Anasûrimbor Kellhus.
Lächelnd weinte sie verzückte Freudentränen. Endlich sah sie ihn, wie er wirklich war – umgeben von einer Aureole, die sich im Bereich seiner Hände beinahe zu materialisieren schien. Jetzt erst hatte sie ihn erkannt!
Als sie später das in Streifen geschnittene rohe Rehfleisch in einem zugigen Pappelwäldchen kauten, wandte er sich auf Nymbricanisch an sie: »Du verstehst.«
Sie lächelte, war aber nicht überrascht, denn er hatte sie oft gebeten, ihm etwas in ihrer Muttersprache zu erzählen – nicht, um sie zu lernen, wie sie nun begriff, sondern um Serwës geheimer Stimme zu lauschen, jener Stimme, die vor dem Zorn des Scylvendi geschützt war.
»Ja… ich verstehe. Ich bin dir zur Frau bestimmt.« Sie blinzelte Tränen aus den Augen.
Er lächelte voller Mitgefühl und streichelte ihre Wange. »Bald, Serwë. Sehr bald.«
An diesem Nachmittag durchquerten sie ein breites Tal, und als sie den gegenüberliegenden Höhenkamm erreichten, sahen sie ihre Verfolger zum ersten Mal. Serwë konnte sie erst nicht entdecken, nur einen besonnten Waldrand entlang einer fernen Steinböschung. Dann erkannte sie dahinter die Umrisse von Pferden, deren Beine durchs Halbdunkel scherten. Die Reiter saßen zusammengekauert da, um nicht an unbemerkte Äste zu stoßen. Unvermittelt tauchte einer am Waldrand auf, und die Sonne ließ seinen Helm und seine
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