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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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auszusehen.
    Du also bist sein Freund, dachte sie und dankte ihm im Stillen.
    Sie kannte fast niemanden von denen, die am Feuer saßen, doch der Mann mit den von Narben gerippten Armen musste der Scylvendi sein, von dem alle Welt sprach. War der Mann mit dem blonden Bart neben dem atemberaubenden Norsirai-Mädchen dann sein Begleiter? Dieser Prinz von Atrithau, der vom Heiligen Krieg zu träumen behauptete? Esmenet fragte sich, wen sie hier sonst noch vor der Nase hatte. Ob sogar Kronprinz Proyas dabei war?
    Mit großen Augen beobachtete sie die Versammlung, und Ehrfurcht machte ihr das Atmen schwer. Sie begriff, dass sie sich im Zentrum des Heiligen Kriegs befand – dort, wo Leidenschaft, Verheißung und heilige Vorsätze glühten. Diese Männer waren mehr als nur Menschen – sie waren Kahiht, Weltseelen also, die im großen Rad großer Ereignisse gefangen waren. Der Wunsch, unter sie zu treten, entlockte ihr heiße Tränen. Aber wie sollte sie das tun, da sie verlegen ihren Handrücken verbergen müsste und für den durchdringenden Blick dieser Männer dennoch sofort als das gebrandmarkt wäre, was sie war…
    Was? Eine Hure? Hier? Soll das ein Witz sein… ?
    Was hatte sie sich nur gedacht? Selbst wenn Achamian hier gewesen wäre, hätte sie ihm nur Schande gemacht.
    Wo bist du?
    »Alle mal herhören!«, rief ein großer, dunkelhaariger Mann und ließ Esmenet zusammenfahren. Er trug einen kurzgeschorenen Bart und eine aufwändige Robe mit kompliziertem Blumenmuster. Als die Letzten verstummt waren, hob er seinen Kelch zum Nachthimmel.
    »Morgen«, sagte er, »marschieren wir los!«
    Mit leidenschaftlich glänzenden Augen fuhr er fort und sprach von Herausforderungen, die es zu bestehen, und von Nationen, die es zu besiegen gelte, von der Vernichtung der Heiden und davon, dass ihre Missetaten gesühnt werden müssten. Dann sprach er vom herrlichen Shimeh, dem heiligsten Ort auf Erden. »Wir kämpfen nicht um Grund und Boden«, sagte er. »Wir kämpfen um die Grundfeste unseres Glaubens, um das Fundament, aus dem unsere Religion erwachsen ist – um die Grundlage all unserer Hoffnungen und Überzeugungen…« Die Stimme versagte ihm vor Inbrunst.
    »Wir kämpfen um Shimeh.«
    Es war einen Augenblick lang still. Dann stimmte Xinemus das Große Tempelgebet an:
     
    Gnädiger Gott aller Götter,
    der du unter uns umhergehst,
    endlos sind deine heiligen Namen.
    Möge dein Brot unseren täglichen Hunger stillen
    und dein Regen unser wunderbares Land erquicken;
    möge unsere Unterwerfung unter deine Macht
    uns Herrschaft über die Völker auf Erden eintragen,
    damit wir in deinem Namen blühen und gedeihen.
    Verurteile uns nicht nach unserer Schuld,
    sondern nach den Verlockungen,
    denen wir ausgesetzt sind,
    und gib anderen im Guten wie im Bösen zurück,
    was sie uns Gutes oder Böses getan haben,
    dein Name ist Macht,
    Ehre und Wahrheit,
    jetzt und immerfort
    und von Zeitalter zu Zeitalter.
     
    »Ehre sei dir, o Herr«, antwortete ein gutes Dutzend Stimmen auf dieses Gebet, und es klang, als wäre eine ganze Gemeinde im Tempel versammelt.
    Die feierliche Atmosphäre blieb noch einen Moment erhalten, doch dann wurden wieder Trinksprüche ausgebracht und dampfende Fleischportionen vom Spieß gesäbelt. Esmenet wurde immer beklommener zumute. Was sie hier sah, schien ihr unglaublich schön. Strahlend. Kühn. Königlich. Sogar heilig. Und doch regte sich in ihr der Verdacht, dass alle verschwänden und sie allein vor einer kalten Feuerstelle stehen und ihre Unverschämtheit beklagen würde, falls sie es wagen sollte, sich bemerkbar zu machen und die Kahiht mit ihrer heimlichen Anwesenheit zu konfrontieren.
    Das ist die Welt, begriff sie. Hier. Direkt vor mir.
    Jetzt sprach der Prinz von Atrithau Xinemus etwas ins Ohr. Der Marschall lächelte und wies genau in Esmenets Richtung. Nun kamen die beiden auf sie zu, und sie schrak in die Dunkelheit hinter dem kleinen Zelt zurück und kauerte sich zusammen, als sei ihr kalt. Sie sah die Schatten der beiden Seite an Seite gespenstisch über die festgetretene Erde und das Gras streichen. Dann kamen sie an ihr vorbei und folgten einem unsicher nach vorn weisenden Lichtstrahl zum Kanal. Sie hielt den Atem an.
    »In dem Dunkel hinter einem Feuer herrscht immer unglaubliche Ruhe«, meinte der großgewachsene Prinz.
    Die beiden hielten am Ufer, hoben die Tunika und nestelten am Lendenschurz. Dann hörte man es im Wasser plätschern.
    Trotz ihrer Angst rollte Esmenet die Augen und

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