Schattenfall
weltliche, dort religiöse Lieder. Andere tanzten zum rauen Klang der Doppelflöte oder zum klagenden Näseln der Nilnamesh-Harfe. Alle tranken. Sie sah einen hochgewachsenen Thunyeri einen Bullen mit der Streitaxt niedermetzeln und seinen Kopf in ein improvisiertes Altarfeuer werfen. Die dunklen Augen des Tiers wirkten wie aus Glas und erinnerten mit ihren langen Wimpern eigenartig an die Augen von Sarcellus.
Der war früh schlafen gegangen und hatte das damit begründet, sie würden tags darauf in aller Frühe ihre Zelte abbrechen und sollten sich vorher noch mal richtig ausruhen. Esmenet hatte neben ihm gelegen, die Wärme seines breiten Rückens gespürt und gewartet, bis sein Atem flach wurde und in jenen Rhythmus überging, der für seinen Schlummer typisch war. Als sie sicher sein konnte, dass er fest eingeschlafen war, glitt sie aus seinem Bett und sammelte so leise wie möglich ein paar Sachen zusammen.
Die Nacht war schwül, und der Klang und die Gerüche der nahen Feste ließen die feuchte Luft geradezu beben. Mit einem Lächeln über das Ungeheure, das vor ihr lag, hatte Esmenet ihre Habseligkeiten aufgehoben und war in die Nacht verschwunden.
Jetzt war sie beinahe im Zentrum des Lagers angekommen, schlängelte sich durch die Menge und hielt erneut an, um festzustellen, wo sich das Große Stadttor von Momemn befand.
Sich mitten durchs Festgetümmel zu arbeiten, erwies sich als schwierig. Viele Männer packten sie aus heiterem Himmel. Die meisten warfen sie nur in die Luft, lachten und vergaßen sie, sobald sie sie wieder auf den Boden gesetzt hatten, doch die Dreisteren – vorwiegend Norsirai – fingerten entweder an ihr herum oder rückten ihren Lippen mit schmerzhaften Küssen zu Leibe. Ein Milchgesicht aus Ce Tydonn, das eine Hand größer als selbst Sarcellus war, erwies sich als besonders aufdringlich. Der Kerl stemmte sie mühelos in die Luft und rief dabei immer wieder »Tusfera! Tusfera!« Sie zappelte und funkelte ihn wütend an, doch er grinste nur und drückte sie an sein Kettenhemd. Sie verzog das Gesicht und musste mit Schrecken feststellen, dass die Augen ihres Gegenübers zwar genau in die ihren sahen, die Wut und Angst darin jedoch nicht einmal im Ansatz wahrnahmen. Sie trommelte auf seine Brust ein, doch er lachte wie ein Vater, der mit seiner kreischenden kleinen Tochter schäkert. »Nein!«, stieß sie hervor, als sie merkte, dass eine täppische Hand sich ihre Schenkel hochtastete. »Tusfera!«, brüllte der Mann begeistert. Als sie seine Finger spürte, schlug sie ihn – wie ein guter Kunde ihr vor Jahren beigebracht hatte – dorthin, wo Bart und Nase zusammentrafen.
Mit einem Schrei ließ er sie los und stolperte rückwärts. Seine Augen waren vor Schreck und Verwirrung geweitet, als wäre er von einem treuen Pferd getreten worden. Im Schein des Feuers tropfte ihm Blut auf die bleichen Finger. Esmenet hörte Jubel, als sie fliehend in der Menge verschwand.
Einige Zeit verging, ehe sie zu zittern aufhörte. Schließlich kauerte sie sich auf einem dunklen Fleckchen hinter einem mit unzähligen stilisierten Figuren bestickten Ainoni-Zelt nieder, schlang die Arme um die Knie, schaukelte vor und zurück und beobachtete dabei die Flammenspitzen eines nahen Freudenfeuers, das so hoch loderte, dass es die Zelte ringsum überragte. Funken tanzten wie Stechmücken in den Nachthimmel.
Sie weinte ein wenig.
Ich komme, Akka.
Dann nahm sie ihren Weg wieder auf, hielt sich nun aber von Gruppen fern, in denen es keine Frauen oder zu viel Alkohol gab. Bald tauchte das Stadttor mit seinen von Fackeln gekrönten Zinnen auf. Sie riskierte es, sich einer Gruppe gesetzter Zecher zu nähern, fragte nach dem Zelt des Marschalls von Attrempus und bemühte sich, ihren tätowierten Handrücken zu verbergen. Mit der umständlichen Höflichkeit von schwer Betrunkenen beschrieben die Männer ihr etwa zehn Wege zum Ziel. Verärgert fragte sie schließlich einfach nur nach der Richtung.
»Da lang«, sagte einer auf Scheyisch, aber mit starkem Akzent, »über den toten Kanal.«
Noch ehe sie ihn gesehen hatte, wusste sie, warum er »toter Kanal« hieß, denn bald mischte sich in die unangenehm schwüle Luft obendrein der Gestank von verrottenden Pflanzen, Abfall und brackigem Wasser. Mit ein paar Rittern aus Conriya, die erheblich größer waren als sie, überquerte sie eine schmale Holzbrücke. Schwarz und reglos lag der Kanal im Fackelschein. Einer der Männer beugte sich übers Geländer, um seine
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