Schattenfall
wovon er Nacht für Nacht träumte. Der Orden der Mandati schwebte nicht bloß in ständiger Alarmbereitschaft zwischen zwei Zeitaltern, sondern auch zwischen Traum- und Wachbewusstsein. Wenn die Skeptiker – diejenigen also, die glaubten, die Rathgeber hätten das Gebiet der Drei Meere verlassen – sich mit den Mandati beschäftigten, sahen sie in ihnen keinen von weltlichem Ehrgeiz korrumpierten Orden, sondern im Gegenteil einen Orden, der eigentlich nicht von dieser Welt war. Ihr historischer Auftrag – das Mandat mithin, von dem sich ihr Name »Mandati« herleitete – war also nicht, einen längst vergangenen Krieg immer aufs Neue träumend zu durchleben oder einem seit langem toten Hexenmeister zu huldigen, den die Schrecken jenes Krieges in den Wahnsinn getrieben hatten. Ihr Auftrag bestand vielmehr darin zu lernen, also aus den Nacht für Nacht aufs Neue vergegenwärtigten historischen Erfahrungen heraus die Gegenwart zu gestalten.
»Wollt Ihr etwa einen philosophischen Disput mit mir führen, Nautzera?«, fragte er und hielt dem wütenden Blick seines Gegenübers stand. »Vorhin seid Ihr zu streng gewesen, und jetzt macht Ihr es Euch zu leicht.«
Nautzera blinzelte überrascht.
Simas bemühte sich eilends um Ausgleich. »Ich verstehe deinen Widerwillen, alter Freund. Auch ich habe – wie du weißt – meine Zweifel.« Er sah Nautzera scharf an, der Achamian noch immer ungläubig musterte.
»Skepsis ist durchaus eine Stärke«, fuhr er fort. »Wer in gefährlichen Zeiten seinem Glauben gedankenlos nachhängt, stirbt zuerst. Und wir leben wirklich in bedrohlichen Zeiten, Achamian – bedrohlicher als seit vielen Jahren. Vielleicht so gefährlich, dass wir selbst unserer Skepsis gegenüber skeptisch sein sollten, hmm?«
Etwas in der Stimme seines Lehrers ließ Achamian aufhorchen, und er drehte sich zu ihm um.
Simas hatte ein Zögern in den Augen, und es schien einen Moment lang, als spiegelte seine sorgenvolle Miene den Kampf einander widersprechender Standpunkte. Dann fuhr er fort: »Du hast gemerkt, wie intensiv die Träume geworden sind. Das sehe ich an deinen Augen. In letzter Zeit haben wir alle einen etwas irren Blick bekommen… etwas…« Er zögerte und sah ins Unbestimmte, als würde er seinen Herzschlag zählen. In Achamian sträubte sich alles. So hatte er seinen Lehrer noch nie gesehen. Unentschlossen. Sogar ängstlich.
»Denk mal über Folgendes nach, Achamian«, sagte er endlich. »Wenn unser Gegner, wenn die Rathgeber die Macht über das Gebiet der Drei Meere an sich reißen wollten, welches Instrument wäre ihnen da dienlicher als gerade die Tausend Tempel? Wo könnten sie sich besser vor uns verstecken und doch enorme Macht ausüben? Und wie könnten sie die Mandati – die ja als Letzte die Erinnerung an die Apokalypse wachhalten – besser zerstören als dadurch, den Wenigen den Heiligen Krieg zu erklären? Stell dir mal vor, die Menschen würden ohne unsere Führung und ohne unseren Schutz einen Krieg gegen den Nicht-Gott riskieren…«
Ohne Seswatha.
Achamian musterte seinen alten Lehrer für einen langen Moment in offenkundigem Zweifel, doch nun krochen ihm Traumbilder wie Imaginationen des Schreckens ins Bewusstsein: Seswathas Internierung in Dagliash; die Kreuzigung; das Glitzern des Sonnenlichts auf den Bronzenägeln, die ihm durch die Unterarme getrieben waren; seine Schreie… Seine Schreie? Das war der springende Punkt: All diese Erinnerungen waren gar nicht seine Erinnerungen, sondern die eines anderen, waren die von Seswatha, dessen Leid einmal zu Ende gehen musste, damit sie auch nur eine leise Hoffnung haben konnten, weiterzukommen.
Dennoch blickte Simas ihn so seltsam an. Es schien, als sehe ihm die Unentschlossenheit im Gewand erwartungsvoller Neugier aus den Augen. Kein Zweifel – etwas hatte sich verändert. Die Träume waren intensiver geworden. Erbarmungslos. Und zwar so sehr, dass schon das kleinste Nachlassen der Konzentration die Gegenwart unter einer Flutwelle begrub und ihn in eine traumatische Vergangenheit versetzte, die manchmal so entsetzlich war, dass ihm die Hände zitterten und sein Mund sich zu einem stummen Schrei formte. Die bloße Möglichkeit, solch ein Entsetzen könnte zurückkehren! Rechtfertigte sie es nicht, seine große Liebe Inrau zu opfern? Den Jungen, der seinem Herzen mit solcher Leichtigkeit den Überdruss ausgetrieben hatte? Der ihn gelehrt hatte, jeden Atemzug zu genießen… Was für ein Fluch war es doch, zu den Mandati zu
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