Schattenfall
meinte sein alter Lehrer.
»Nein«, gab Achamian zurück und wandte sich wieder Nautzera zu. Plötzlich war ihm das Herz unendlich schwer. »Nein. Inrau wurde auf der anderen Seite der Grenze geboren und wird kein zweites Mal in unser Lager wechseln.«
Der Alte wirkte auf kalte Weise belustigt, was seinen Zügen etwas besonders Bitteres verlieh. »Ach, Achamian – der kehrt bestimmt zu uns zurück.«
Achamian war klar, was sie von ihm wollten: dass er Inrau durch die Anwendung seiner Hexenkünste wieder auf ihre Seite ziehen, mithin Verrat an ihm üben sollte. Er hatte Inrau nahegestanden und ihm versprochen, ihn zu beschützen. Sie hatten einander… sehr nahegestanden.
»Nein«, antwortete er. »Da mach ich nicht mit. Inrau ist zu sensibel. Er hat nicht genug Stehvermögen für das, was ihr von ihm verlangt. Dafür müssen wir uns einen anderen suchen.«
»Den gibt es aber nicht.«
»Trotzdem«, sagte Achamian und begriff langsam, welche Folgen seine Unbesonnenheit zeitigte. »Da mach ich nicht mit.«
»Da machst du nicht mit?«, höhnte Nautzera. »Weil dieser Priester ein Schwächling ist? Achamian, du musst lernen, deinen Bemutterungstrieb zu unterdrü…«
»Es ist Treue, die Achamian so reagieren lässt, Nautzera«, unterbrach Simas. »Bring da nichts durcheinander!«
»Treue?«, wiederholte Nautzera triumphierend. »Genau darum geht’s doch, Simas! Was wir Mandati gemeinsam haben, ist anderen Menschen unfasslich: simultane Träume! Bei einer so intensiven Bindung grenzt jedes Verpflichtungsgefühl Dritten gegenüber an Hochverrat!«
»Hochverrat?«, rief Achamian und wusste, dass er vorsichtig sein musste. Solche Worte glichen Weinfässern – einmal ins Rollen gekommen, waren sie schwer aufzuhalten und konnten verheerenden Schaden anrichten. »Ihr missversteht mich beide. Ich weigere mich aus Treue zu den Mandati! Inrau ist zu sensibel. Wenn wir uns an ihn heranmachen, laufen wir Gefahr, die Tausend Tempel gegen uns aufzubrin…«
»So eine dürftige Lüge!«, brummte Nautzera böse und lachte dann, als würde ihm erst jetzt klar, dass er mit dieser Unverschämtheit die ganze Zeit schon hätte rechnen sollen. »Orden kundschaften nun mal die Situation aus, Achamian. Wir haben es uns schon im Vorhinein mit allen verscherzt – und das weißt du auch!« Der alte Hexenmeister wandte sich ab und wärmte die Hände über der Glut eines nahen Kohlenbeckens. Orangefarbenes Licht ließ seine hochgewachsene Gestalt aufleuchten, deren schmaler Umriss in starkem Kontrast zu den gewaltigen Steinfiguren ringsum stand. »Sag mir, Achamian: Wenn Maithanet und die Gefahr eines Heiligen Krieges gegen die Orden auf das Konto unseres, gelinde gesagt, schwer fassbaren Gegners gehen sollten – wären Inraus zartes Leben und sogar der gediegene Ruf der Mandati es dann nicht wert, in die Waagschale geworfen zu werden?«
»Wenn es so wäre, Nautzera«, gab Achamian zurück, »dann sicher.«
»Ah ja. Ich hatte vergessen, dass du dich zu den Skeptikern zählst. Was willst du damit eigentlich sagen? Dass wir Phantomen nachjagen, Geistern?« Er schien dieses Wort wie einen zweifelhaften Bissen prüfend im Mund zu bewegen. »Also bist du vermutlich der Meinung, schwerer als eine bloße Möglichkeit – dass wir es nämlich mit den ersten Anzeichen der Rückkehr des Nicht-Gottes zu tun haben könnten – wiege eine Tatsache, nämlich das Leben eines Abtrünnigen. Du würdest also für diesen Narren die Apokalypse riskieren, ja?«
Das traf Achamians Gefühle tatsächlich genau. Aber wie hätte er das zugeben können?
»Ich bin darauf gefasst, bestraft zu werden«, versuchte er gelassen zu entgegnen. Doch seine Stimme entgleiste und klang tief verletzt. »Ich bin nicht labil.«
Nautzera musterte ihn. »Ihr Skeptiker!«, rief er verächtlich. »Ihr macht alle den Fehler, uns mit den Anhängern anderer Orden über einen Leisten zu schlagen. Aber wetteifern wir um Macht? Scharwenzeln wir um Paläste? Installieren wir magische Schutzschilde? Schnüffeln wir wie Hunde jeder Hexerei nach? Liegen wir Kaisern und Königen jammernd in den Ohren? Die Abwesenheit der Rathgeber lässt dich unser Tun mit dem von Leuten verwechseln, die nur um der Macht willen handeln – und um der kindischen Genugtuung willen, die sie bereithält. Du verwechselst uns mit Huren!«
Ob das stimmen mochte? Nein. Er hatte oft und gründlich darüber nachgedacht. Anders als Leute wie Nautzera konnte er klar zwischen der Gegenwart und dem unterscheiden,
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