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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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schrecklichen Träume Seswathas auch überleben sollen? Wie konnte man in bloßem Sonnenschein noch Trost finden, wenn der Nicht-Gott als ständige Gefahr ringsum hinterm Horizont dräute? Den Opfern der Apokalypse war das Erleben der Schönheit versagt.
    Doch die Mandati nahmen nicht hin, dass jemand abtrünnig wurde. Die Gnosis war viel zu kostbar, um sie Unzufriedenen anzuvertrauen. Während des gesamten Gesprächs hatte Nautzera eine unausgesprochene Drohung in petto gehabt: Der Junge ist ein Abtrünniger, Achamian. Er sollte sterben – so oder so. Wie lange mochten die Mitglieder des Quorums gewusst haben, dass Achamians Geschichte von Inraus Ertrinken eine Lüge war? Von Anfang an? Oder hatte Simas ihn wirklich verraten?
    Von allem, was er im Leben getan hatte, erkannte Achamian nur eines als wirkliche Leistung, als an und für sich gute Tat an: dafür gesorgt zu haben, dass Inrau die Flucht gelungen war – auch wenn er dafür seinen Orden verraten hatte. Achamian hatte die Unschuld geschützt und ihr die Flucht an einen sichereren Ort ermöglicht. Wie konnte jemand das missbilligen?
    Doch jede Tat kann verurteilt werden. Wie alle Stammbäume sich zu einem lange toten König zurückverfolgen lassen, kann auch jede Handlung in ein ursächliches Verhältnis zu einer potentiellen Katastrophe gesetzt werden. Man muss der Kausalitätskette nur lange genug folgen. Wenn ein anderer Orden sich Inrau greifen und ihn zwingen würde, die wenigen Geheimnisse preiszugeben, die er kannte, wäre die Gnosis verloren, und die Mandati wären ins machtlose Dunkel eines Sektendaseins verbannt, würden vielleicht sogar zerstört.
    Hatte er damals richtig gehandelt oder einfach nur va banque gespielt?
    Durfte man für das Leben eines guten Menschen die Apokalypse riskieren?
    Nautzera hatte das bestritten, und Achamian hatte ihm recht gegeben.
    Die Träume. Was geschehen war, durfte sich nicht wiederholen. Die Welt durfte nicht sterben. Tausend Unschuldige – selbst tausendmal tausend! – waren das Risiko einer Zweiten Apokalypse nicht wert. Dieser Überzeugung Nautzeras hatte Achamian zugestimmt. Er würde Inrau aus dem Grund verraten, aus dem Unschuldige stets verraten werden: aus Angst.
    Er lehnte sich an die Brüstung, blickte über die aufgewühlte Meerenge und wollte sich unbedingt erinnern, wie sie an jenem sonnigen Tag mit Inrau ausgesehen hatte, doch das misslang.
    Maithanet und der Heilige Krieg. Bald würde Achamian Atyersus verlassen und nach Sumna im Reich Nansur reisen, in die heiligste Stadt der Inrithi also, zum Sitz der Tausend Tempel und des Stoßzahns. Nur Shimeh, die Geburtsstadt des Letzten Propheten, war genauso heilig.
    Wie viele Jahre waren seit seinem letzten Besuch in Sumna vergangen? Fünf? Sieben? Er fragte sich gedankenverloren, ob er Esmenet dort finden würde. Ob sie überhaupt noch lebte? Irgendwie hatte sie seinen Kummer stets zu lindern vermocht.
    Und trotz der Umstände würde es gut sein, Inrau zu treffen. Den Jungen zu warnen war das Mindeste, was er für ihn tun konnte. Sie wissen es, mein Lieber. Ich habe dich im Stich gelassen.
    Das Meer bot ihm keinerlei Trost. Mit einem erschlagenden Gefühl von Einsamkeit sah Achamian über die Meerenge in die Richtung, in der Sumna in weiter Ferne liegen musste. Er sehnte sich danach, diese beiden Menschen wiederzusehen – den Jungen, den er geliebt, aber an die Tausend Tempel verloren hatte, und die Frau, die er vielleicht lieben könnte…
    Wenn er ein Mann wäre – kein Hexenmeister und Kundschafter.
     
     
    Nachdem Nautzera Achamians einsame Gestalt im Zedernwald unterhalb von Atyersus hatte verschwinden sehen, blieb er noch auf der Brüstung, genoss die letzten Sonnenstrahlen und musterte das vom Sturm aufgetürmte Wolkengeklüft im Norden. Zu dieser Jahreszeit würde Achamian auf seiner Reise nach Sumna sicher sehr schlechtes Wetter haben. Nautzera wusste, dass er die Fahrt überstünde – notfalls mit Hilfe der Gnosis –, doch würde er den viel größeren Sturm überleben, der ihn in Sumna erwartete? Würde er Maithanet überstehen?
    Unsere Aufgabe ist so groß, dachte er. Und unsere Werkzeuge sind so schwach.
    Er riss sich von seinen Träumereien los – dieser schlechten Gewohnheit, die mit den Jahren immer schlimmer geworden war –, hastete durch die mächtigen Säulengänge und ignorierte dabei Kollegen wie Untergebene. Als er schließlich die Bibliothek betrat, spürte er den anstrengenden Marsch in den alten Knochen. Wie erwartet,

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