Schattenfall
gehören! Zu einem Orden, dem nicht nur Gott, sondern sogar die Gegenwart geraubt war. Das Einzige, was die Mandati besaßen, war die krallende, erstickende Angst, die Katastrophe der Vergangenheit werde sich wiederholen.
»Simas…«, begann er, stockte dann aber. Er wollte sich schon geschlagen geben, doch die Tatsache, dass Nautzera in der Nähe stand, ließ ihn schweigen. Bin ich denn so kleinmütig geworden?
Die Zeiten waren wirklich stürmisch – ein neuer Vorsteher der Tausend Tempel; die Inrithi voll frisch entflammten Glaubenseifers; die drohende Gefahr eines zweiten Ordenskriegs; die plötzliche Gewalt der Träume…
In diesen Zeiten lebe ich. All das geschieht jetzt.
Es schien beinahe unmöglich.
»Du begreifst die Notwendigkeiten so klar wie jeder von uns«, sagte Simas leise. »Und du weißt, was auf dem Spiel steht. Inrau war kurze Zeit bei uns. Möglich, dass er zur Einsicht gebracht werden kann – vielleicht sogar ohne Hexenkunst.«
»Außerdem«, ergänzte Nautzera, »würde uns deine Weigerung, nach Sumna zu reisen, nur zwingen, jemanden zu schicken, der – wie soll ich sagen? – weniger sentimental wäre als du.«
Achamian stand allein an der Mauerbrüstung. Selbst hier auf den Türmen über der Meerenge empfand er die Festung Atyersus als bedrängend und hatte den Eindruck, ihre ungeheuren Mauern ließen ihn schrumpfen. Auch der Blick aufs Meer bot ihm kaum Trost.
Alles war so schnell gegangen, als hätte ein Riese ihn gepackt, zwischen seinen Handflächen hin und her gerollt und dann in eine völlig andere Richtung geworfen. In eine andere und doch immer gleiche Richtung. Drusas Achamian hatte sich manchen Pfad durchs Gebiet der Drei Meere gebahnt und dabei viele Sandalen verschlissen, kein einziges Mal aber hatte er auch nur für einen Moment zu sehen bekommen, wonach er angeblich suchte. Er war stets nur der Abwesenheit, der immer gleichen Abwesenheit begegnet.
Die Unterredung war noch lange weitergegangen. Es schien unvermeidlich, dass jede Audienz beim Quorum sich furchtbar hinzog und mit Zeremoniell und unerträglichem Ernst beschwert war. Zur Eigenart dieses Krieges mochte der Ernst vielleicht sogar passen, überlegte Achamian. Sofern dauerndes Tappen im Dunkeln als eine Form von Kriegführung gelten konnte.
Selbst nachdem er nachgegeben und sich einverstanden erklärt hatte, Inrau mit allen Mitteln für ihre Sache zu werben, hatte Nautzera es für nötig gehalten, ihn seines langen Widerstandes wegen zu schelten.
»Wie hast du das bloß vergessen können, Achamian?«, hatte der alte Hexenmeister mit donnernder Stimme gerufen, und seine Miene war dabei zugleich griesgrämig und flehentlich gewesen. »Die Alten Namen halten noch immer auf den Türmen von Golgotterath Wacht – und wohin blicken sie? In den Norden etwa? Dort gibt es nur Wildnis, Achamian, nur Sranc und Ruinen. Nein, sie blicken nach Süden – auf uns! – und hecken mit einer Geduld, die jeder Vorstellung spottet, ihre Pläne aus. Nur die Mandati sind ihnen an Geduld ebenbürtig. Nur sie erinnern sich.«
»Vielleicht«, hatte Achamian entgegnet, »erinnern die Mandati sich ja zu inständig.«
Jetzt aber konnte er sich nur noch fragen: Habe ich wirklich begonnen zu vergessen?
Die Mandati konnten nie vergessen, was geschehen war – das jedenfalls gewährleistete die ungeheure Gewalt, mit der Seswathas Träume sie überkamen. Doch wenn die Zivilisation rund um die Drei Meere eines war, dann beharrlich – und das, obwohl die Tausend Tempel, die Scharlachspitzen und alle Großen Gruppen einander endlos und überall in Kleinkriege und Rangeleien verwickelten. Inmitten dieses Labyrinths geriet die Vergangenheit leicht in Vergessenheit. Je mehr Sorgen die Gegenwart bereitete, umso schwieriger war zu erkennen, wie die Vergangenheit auf die Zukunft vorausdeutete.
Hatte die Sorge um Inrau – den Schüler, der ihm wie ein Sohn gewesen war – ihn das vergessen lassen?
Achamian durchschaute die Struktur von Nautzeras Welt genau, denn in seinem Kopf hatte einmal die gleiche Ordnung geherrscht. Für Nautzera gab es keine Gegenwart, nur die lautstarken Forderungen einer quälenden Vergangenheit und die Drohung einer genauso furchtbaren Zukunft. Für Nautzera war die Gegenwart auf einen Punkt zusammengeschrumpft, auf den wandernden Angelpunkt nämlich, an dem der Hebel Geschichte auf das Schicksal einwirkt.
Und warum auch nicht? Keine Beschreibung konnte die Qualen der Alten Kriege angemessen vor Augen
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