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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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führen. Fast alle großen Städte des Alten Nordens waren an den Nicht-Gott und seine Rathgeber gefallen. Die Große Bibliothek von Sauglish war geplündert, Trysë, die heilige Mutter aller Städte, ausgeraubt und bis zur Unkenntlichkeit zerstört worden. Die Türme von Myclai waren geschleift. Dagliash, Kelmeol… Ganze Völker waren niedergemetzelt worden.
    Für Nautzera war Maithanet nicht als Vorsteher der Tausend Tempel wichtig, sondern weil er zu seiner gegenwartsfreien Welt gehören mochte, deren einziger Bezugspunkt die tragische Vergangenheit war. Maithanet war nur als potentieller Urheber der Zweiten Apokalypse interessant.
    Ob es wirklich einen Heiligen Krieg gegen die Orden geben wird? Ob der Vorsteher der Tausend Tempel tatsächlich ein Agent der Rathgeber ist?
    Wie sollten ihn diese Gedanken nicht schaudern lassen?
    Achamian fröstelte trotz des warmen Windes. Unter ihm rollten mit Schaum bekrönte Wellen durch die Meerenge. Dunkle Wogen stürmten mächtig gegeneinander an und brachen sich mit unheimlicher Wucht, als lägen die Götter selbst dort unten im Streit.
    Inrau… Schon seinen Namen nur zu denken, schenkte Achamian einen flüchtigen Moment des Friedens. Und er hatte in seinem Leben kaum Frieden gehabt! Jetzt aber war er gezwungen, diesen Frieden gegen den Schrecken in die Waagschale zu werfen. Er musste Inrau opfern, um diese Fragen zu beantworten.
    Inrau war noch ein übermütiger Jugendlicher gewesen, als er zu Achamian gekommen war – eher ein Junge als ein junger Mann. Obwohl er weder besonders anziehend noch überragend intelligent gewesen war, hatte Achamian gleich gemerkt, dass er sich von den anderen unterschied – vielleicht aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit mit Nersei Proyas, dem ersten Schüler, den er geliebt hatte. Während Proyas aber immer stolzer geworden war und sich an dem Wissen, eines Tages König zu sein, buchstäblich überfressen hatte, war Inrau stets… Inrau geblieben.
    Lehrer finden immer Gründe, sich für ihre Schüler zu begeistern, vor allem den, dass sie zuhören. Achamian aber hatte an Inrau nicht die Bildungsbeflissenheit geschätzt, sondern den durch und durch guten Charakter. Inrau war nicht im faden Sinne der Mandati gut, die sich wie alle Welt mit den banalen Zumutungen eines ereignisarmen Alltags herumschlugen. Nein, das Gute in Inrau hatte nichts mit freundlichem Auftreten oder lobenswerten Absichten zu tun, sondern war ihm angeboren. Inrau machte aus seinem Herzen keine Mördergrube, wollte seine Fehler nicht partout verheimlichen und buhlte nicht mit allen Mitteln um die Wertschätzung anderer. Er war offen wie sonst nur Kinder und Narren und besaß deren gesegnete Naivität – eine Unschuld, in der mehr Weisheit als Unwissenheit lag.
    Unschuld! Wenn Achamian eins vergessen hatte, dann Unschuld.
    Wie hätte er sich nicht in den Jungen verlieben sollen? Er wusste noch genau, wie er mit ihm an genau dieser Stelle gestanden und das silberne Sonnenlicht auf den Wellen beobachtet hatte. »Die Sonne!«, hatte Inrau gerufen und auf Achamians Frage, was er mit diesem Ausruf habe sagen wollen, bloß gelacht und gemeint: »Sieh doch! Sieh einfach die Sonne an!« Da erst hatte Achamian das Licht in Strahlenbündeln zur Erde fluten und das Meer bis zum Horizont in einen blendenden Teppich verwandeln sehen und sich unendlicher Herrlichkeit gegenüber gewusst.
    Schönheit war Inraus Gabe: Wohin er auch blickte – von überall trat sie ihm entgegen, und deshalb verstand, durchschaute und verzieh er die vielen Makel, mit denen andere geschlagen waren. Bei Inrau war die Vergebung vor der Sünde da, während es bei anderen bestenfalls umgekehrt war. Tu, was du willst, schienen seine Augen zu sagen, denn dir ist schon vergeben.
    Inraus Entscheidung, die Mandati zugunsten der Tausend Tempel zu verlassen, hatte Achamian bestürzt und erleichtert – bestürzt, weil er Inrau und den Genuss seiner Gesellschaft verloren hatte; erleichtert, weil die Mandati die Unschuld des Jungen vernichtet hätten, wenn er geblieben wäre. Bis heute hatte Achamian die Nacht nicht vergessen, in der er Seswathas Herz das erste Mal berührt hatte. In diesem Moment war der Fischersohn in ihm gestorben, er hatte das Zweite Gesicht bekommen, und die Welt war eine andere geworden – durchsetzt mit den dunklen Höhlen einer tragischen Geschichte. Inrau wäre genauso gestorben. Bei der Berührung von Seswathas Herz wäre seines verkohlt. Wie hätte seine Unschuld – jede Unschuld! – die

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