Schattenfeuer
aufgebrochen war. Das würde erst aufhören, sobald sie sich wieder in den sicheren vier Wänden ihres Schlafzimmers befand. Vielleicht nicht einmal dann. Es wurde immer schwieriger, die Angst und die Schuldgefühle zu ignorieren, die mit dem Stehlen einhergingen. Ihre Taschen allerdings waren schwer und beladen mit goldenen Uhren, dicken Brieftaschen und dem einen oder anderen Armband oder einer Brosche. Ein ganzes Vermögen an einem Tag. Ein guter Tag. Und mehr als genug, um sie für Jahre nach Newgate zu bringen.
Miranda unterdrückte das Bedürfnis, über die Schulter zu blicken, und beschleunigte stattdessen ihre Schritte auf dem Nachhauseweg durch die in Nebel gehüllte Gasse. Es herrschte typischer Londoner Nebel, dick und grün wie Erbsensuppe, der einem mit eisigen, fauligen Händen über das Gesicht strich. Ein Nebel, der Nase und Kehle verstopfte und bei jedem schweren Atemzug in der Lunge brannte. In solch einem Nebel konnte man sich verlaufen. Tatsächlich erging es manch einem Touristen so, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als stundenlang herumzuirren und darauf zu warten, dass sich die wirbelnde Masse wieder auflöste. Als Kind hatte Miranda sich oft gefragt, ob ein solcher Nebel womöglich in Wirklichkeit ein Tor zu anderen Welten war, und man einfach hindurchgehen und sich dann an einem völlig anderen Ort wiederfinden konnte. Ein schöner Gedanke. Die Erinnerung brachte sie zum Lächeln, und als sie um die Ecke bog, wanderten ihre Gedanken zurück in eine andere Zeit, als der Nebel zwar nicht ganz so dicht gewesen, sie aber ebenso allein und gedankenverloren durch die Gassen gelaufen war. In jener Nacht war sie ihm begegnet. Er hatte sie vor ein paar Straßenschlägern gerettet. Ein Schauer, der nichts mit der Kälte zu tun hatte, lief prickelnd über ihre Haut und ließ ihre Brustwarzen steif werden. Dieser geheimnisvolle Fremde aus Schatten und Dunkelheit besaß eine Anziehungskraft, die sie immer noch in ihren Bann schlug. Seltsamerweise hatte sie ihn bitten wollen zu bleiben, oder vielleicht auch, sie mit sich zu nehmen, wo immer er auch hingehen wollte. Verrückt, und doch …
Sie holte tief Luft, während ihr Herz sich schuldbewusst zusammenzog, weil sie nicht vergessen konnte, dass ein völlig Fremder mit ihr gesprochen, sie angesehen hatte, als verstünde er ihr dunkelstes Wesen. Warum empfand sie bei Martin nicht so? Er war schon ihr ganzes Leben lang ihr Freund. Sie liebte ihn. Mit Martin zusammen zu sein gab ihr das Gefühl, ihren Platz in der Welt gefunden zu haben. Er war ihre Vergangenheit und würde ihre Zukunft sein. Warum konnte sie dann nicht aufhören, an jemanden zu denken, den sie niemals wiedersehen würde, wenn das Glück doch zum Greifen nahe lag? Fühlte es sich so an, wenn man vor der Hochzeit kalte Füße bekam?
Stirnrunzelnd öffnete Miranda das quietschende Tor vor ihrem Haus, und das schneidende Geräusch wurde durch den Nebel noch verstärkt. Langsam stieg sie die abbröckelnde Vordertreppe hinauf. Hinter den schmutzigen Fenstern des Empfangszimmers brannte Licht. Vermutlich stattete Martin ihnen einen Besuch ab. Vater würde für Miranda nicht so viel Lampenöl verschwenden, und Martin war der einzige Besucher, der ihnen noch geblieben war.
Ein unerwarteter Schwall warmer Luft streifte ihre Wangen, als sie eintrat, gefolgt vom betörenden Aroma leckeren Bratendufts. Sofort knurrte ihr der Magen. Sie runzelte die Stirn stärker, während sie das durchweichte Hütchen und die feuchten Handschuhe ablegte. Seit wann verprassten sie ihr Geld für Braten? Und wer kochte ihn?
»Tochter? Bist du das?«
Beim hoffnungsvollen Klang in der Stimme ihres Vaters kniff sie die Lippen zusammen. Wer sollte es denn sonst sein? Wer sonst als die Tochter, die er hinaus auf die Straße schickte, um für ihn zu stehlen?
»Ja«, antwortete sie. Sie legte Hut und Handschuhe auf das Tischchen im Flur, dann strich sie sich die Röcke glatt, um das Zittern ihrer Hände zu beruhigen. Noch ein tiefer Atemzug, dann war sie bereit, ihrem Vater gegenüberzutreten.
Er und ein weiterer Mann saßen in den beiden mit Chintz bezogenen Armsesseln neben dem Kamin, in dem ein ordentlicher Haufen Kohlen brannte und das Zimmer erwärmte. Ein schönes Bild, wäre da nicht der dunkle Fleck auf der ausgeblichenen Seidentapete über dem Kaminsims gewesen, der verriet, dass dort einmal ein Portrait gehangen hatte. Ihre Mutter, meisterlich in Öl wiedergegeben, hatte von dort einst herabgelächelt.
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