Schattenfeuer
aufgeben?«, fragte sie ruhig. Die Ausbeute des Tages wog schwer in ihren Taschen. Wenn sie sich zu schnell bewegte, würde sie klingeln und bimmeln wie die Glocken der St. Paul’s Cathedral.
Knurrend stieß ihr Vater eine Verwünschung aus und wandte sich mit einer wegwerfenden Handbewegung ab, um im Zimmer auf und ab zu marschieren. Was unter anderem bedeutete, dass er sehr wohl von ihr erwartete, weiter zu stehlen. Also glaubte nicht einmal er selbst gänzlich an seine momentane Glückssträhne. Vielleicht hatte er etwas dazugelernt.
Sie hätte ihn nicht provozieren sollen. Schließlich war es ihre Schuld, dass sie arm waren. Und sie schuldete ihm viel dafür, dass er sie nicht schon vor Jahren hochkant hinausgeworfen hatte. Es wäre leichter, wenn Vater ihr einfach sagen würde, woher er das Geld bekommen hatte. Aber sie wollte ihm seine neu gefundene Freude nicht ruinieren. Was konnte es schon schaden, ihn zu besänftigen? Bald schon würde sie mit Martin zusammen sein. Sie würde eine Ehefrau sein. Eine Partnerin.
Miranda rang sich ein Lächeln ab. »Gut gemacht, Vater. Ich wünsche dir viel Erfolg.« Und das tat sie wirklich. Mehr als er jemals ahnen würde.
Ihr Vater nickte knapp, dann rieb er sich den Nacken. »Das ist unsere Chance, Miranda.« Das Funkeln in seinen Augen war zurück, fieberhaft und vertraut. Sie versuchte sich einzureden, dass es sie diesmal nicht in Schwierigkeiten bringen würde wie schon einmal.
»Wann wirst du das Schiff bereit zum Auslaufen haben?«
»Ende Mai«, antwortete er. »Eher wäre mir lieber, aber da gibt es noch zu viel zu erledigen. Wird es noch später, dann bekommt die Mannschaft es mit gefährlichen Wetterbedingungen zu tun.« In Wahrheit würden sie es, selbst wenn sie im Mai aufbrachen, mit gefährlichem Wetter zu tun bekommen, da das Schiff bei seiner Ankunft an der südlichen Küste Nordamerikas in die ersten Ausläufer der Hurrikan-Saison geraten würde.
Miranda holte noch einmal tief Luft und erhob sich. »Also dann«, ihren Lippen wollte es nicht ganz gelingen, ein Lächeln zustande zu bringen. »Wenn ihr mich bitte entschuldigt, ich möchte mich vor dem Abendessen noch ein wenig frisch machen.« Sie verstummte kurz. »Wo wir schon dabei sind, wer kocht es eigentlich?«
Ihr Vater lächelte. »Ich habe ein Mädchen eingestellt, das das Kochen und Putzen erledigen wird.« Er setzte an, um Miranda über die Wange zu streicheln, hielt dann aber inne, als habe er es sich anders überlegt. »Damit du dich auf andere Dinge konzentrieren kannst.«
Andere Dinge. Diese anderen Dinge beulten gerade ihre Röcke aus. Schließlich verzogen sich ihre Lippen zu einem leicht irritierten Lächeln. »Ich verstehe.«
»Dieses Unternehmen wird mich zu einem gemachten Mann machen«, sagte ihr Vater mit unvermittelter Ernsthaftigkeit.
Leider hatte er das alles schon einmal gesagt.
4
Irgendwo in Zentralmexiko, 16. März 1881
Unablässig schlugen Trommeln, und der Sprechgesang – Worte, die Archer nicht verstand – umwogte ihn pulsierend und brachte ihn ins Wanken. Der Schamane, ein kleiner Mann mit gegerbter Haut in der Farbe von Bernstein, tanzte mit merkwürdigen Schritten und schüttelte dabei den Bogen in seiner Hand.
Plötzlich fühlte Archer sich töricht. Töricht und allein. Wie sollten diese kleinen, knopfförmigen Scheiben der Substanz, die sie Peyote nannten, ihn heilen können? Die Pflanze schmeckte äußerst bitter. Man hatte ihm eine beträchtliche Menge verabreicht, viel mehr als irgendeinem der anderen. Jetzt krampften sich seine Eingeweide zusammen, allen Beschwerden voran stand der Drang, sich zu übergeben. Sein ganzer Körper begann zu zittern.
Aber das hier war kein Heilmittel, oder? Der Schamane hatte ihm schließlich den Ablauf erklärt. Archer würde nicht geheilt werden. Smiths Übersetzung zufolge würde die Droge ihn in eine andere Realität versetzen. Sobald er dort war, brauchte Archer einfach nur um Antworten zu bitten. Darum zu bitten, was er wollte.
Er unterdrückte ein Seufzen und blickte hoch zum samtschwarzen Nachthimmel, der sie einhüllte. So viele Sterne – wie das mit Diamanten bestickte Gewand einer Dame. Die Himmelskörper blinkten und funkelten silbrigweiß und unablässig. Mit angehaltenem Atem verharrte er reglos. Bewegten sie sich? Kaum hatte sich der Gedanke festgesetzt, spaltete ein gleißender, silberweißer Lichtblitz den wogenden Himmel mitten entzwei. Tintenschwarze Samtfetzen lösten sich, als das glühende Licht
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