Schattenfeuer
…«
»Halt die Klappe!«, brüllte Martin, worauf Billy ihn finster anfunkelte.
»Es war ein Fehler«, fuhr Miranda fort. »Einer, den ich nie wieder …«
»Das hast du schon einmal gesagt, Miranda.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Aber sie würde nicht weinen.
Martin sah sie einen langen Augenblick an, dann seufzte er schwer und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, sodass ihm die Locken wild vom Kopf abstanden. »Was meint er mit ›lange Finger gemacht‹?«
Miranda widerstand dem Drang, an ihren Röcken zu zupfen. »Lange Finger machen bedeutet Taschendiebstahl.«
»Ich weiß, was es bedeutet, Miranda. Warum behauptet er, dass du das getan hast?«
Sie hob das Kinn. »Weil es die Wahrheit ist.«
Blinzelnd sah Martin sie an. »Taschendiebstahl. Du.«
»Ist ’n richtiger Taschenkrebs, die Kleine.«
Beide starrten düster zu Billy hinüber, der seinerseits finster zurückstarrte.
Martins Kiefer war angespannt, als er den Blick wieder auf Miranda richtete. »Du bestiehlst fremde Leute. Wie eine gemeine Straßenratte.«
Röte stieg ihr ins Gesicht. »Sieh mich nicht so an, Martin.« Als er darauf nur die Brauen hochzog, ballte sie die Fäuste. »Vater hat mich dazu gezwungen. Um sein mageres Einkommen aufzubessern.« Martin starrte sie immer noch wortlos an. Sie biss die Zähne zusammen. »Es bestand die Gefahr, dass wir auf die Straße gesetzt werden, dass wir verhungern. Was hätte ich denn deiner Meinung nach tun sollen?«
»Zu mir kommen und mich um Hilfe bitten?«
Sie seufzte. »Du kannst doch kaum für dich selbst aufkommen. Und dieses Kreuz zu tragen war meine Aufgabe.«
»Ich würde sagen, du hast es gut getragen.«
Wütend versteifte sie sich. »Wenn ich eine Märtyrerin wäre, dann wäre ich weinend zu dir gekommen.«
Martin rümpfte die Nase, nickte jedoch knapp. »Schon gut, Miranda. Ich verstehe. Du hattest keine andere Wahl.« Sein Tonfall ließ anderes vermuten.
»Martin …«
Sie trat näher, doch er wich zurück und hob abwehrend die Hand. Die Geste war wie ein körperlicher Stoß vor die Brust für sie. »Ist schon gut.« Er schluckte. »Ich … ich sollte jetzt gehen.«
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie sich in ein paar Stunden in der Kirche treffen sollten, und jede Faser ihres Körpers erstarrte, als jähe Angst von ihr Besitz ergriff. Er sah sie nicht einmal an. Mit steifen, unsicheren Schritten ging er zurück zu dem offenen Fenster, durch das er hereingekommen war.
»Martin«, sie leckte sich über die trockenen Lippen, »Wir sehen uns später?«
Sein Schritt stockte. »Natürlich«, antwortete er nach einem qualvollen Moment.
Er ging, ohne sich noch einmal umzusehen.
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Zentralmexiko, 17. März 1881
»He!« Eine raue Hand schüttelte ihn an der Schulter. »Lord Archer. Sind Sie da?«
Noch ein Schütteln.
Archer stöhnte. Seine Eingeweide krümmten sich vor Übelkeit. Allmählich kam wieder Gefühl in seinen Körper. Als er mit großer Anstrengung die Lider öffnete, stach ihm Sonnenlicht in die Augen und ließ sie tränen. Er blinzelte, und Smith kam verschwommen in sein Blickfeld. Der Schamane stand neben ihm, seine dunklen Augen funkelten, als wäre der Anblick von Archer, ausgestreckt wie ein Betrunkener, äußerst belustigend. Mit einem beifälligen Nicken drehte sich der Schamane um und sagte ein paar Worte zu Smith.
Der grinste auf Archer herab. »Ziemlicher Trip, was?«
Ein Trip? Archer fand dieses Wort zu harmlos für das, was er erlebt hatte. Es war so … lebhaft, so intensiv gewesen. Ich liebe dich, Benjamin Archer. Mit unerwarteter Heftigkeit durchfuhr ihn ein Stich von Sehnsucht. Nach ihr.
Schwungvoll setzte er sich auf und stöhnte erneut. Das war keine gute Idee gewesen. Sein leerer Magen hob sich. Er schluckte hart und hielt sich den Kopf.
»Na?« Smith ging neben ihm in die Hocke. »Haben Sie Ihre Antworten gefunden?«
Das Wort purzelte ihm über die Lippen, bevor er es verhindern konnte. »Miranda.«
Seine Rettung und zugleich genau die Frau, von der er sich fernhalten würde, weil er noch nicht geheilt war. Aber seine Entschlossenheit bröckelte. Komm zurück zu mir, Archer. Träume hatten nichts mit der Realität gemein. Wahrscheinlich würde sie voller Angst vor ihm davonlaufen. Er hatte ihren Vater gezwungen, ihm die Hand seiner Tochter zu geben. Sie gehörte ihm, ohne dass sie es überhaupt wusste. Wie konnte er ihr das antun? Jeder hatte es verdient, die Wahl zu haben.
Ihm wurde schmerzhaft schwer ums Herz.
Eine Hand
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