Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
bequem. Er lauschte in sich, hörte auf seinen langsamen Herzschlag, den ruhigen Atem in seiner Brust, verfolgte die Wasserströme, die von seinem kahlen Schädel in seinen Nacken liefen und von dort weiter seine Wirbelsäule entlang nach unten oder nach vorne, über die Augenbrauen an seinen Augen vorbei über die Wangen hinweg zum Kinn, von wo aus das Wasser zu Boden tropfte,
tropf, tropf
. Er beobachtete ein paar Krähen über sich in einer Kiefer, die dort mit eingezogenen Köpfen saßen und sich ebenfalls vor dem Regen versteckten. Sie sahen aus, als ob sie gar keine Hälse hätten, als ob ihre Köpfe gleich auf ihren Schultern festgewachsen wären. Aus einem Erdloch zu seinen Füßen streckte eine Maus eine zitternde Nase, doch sie verschwand sofort wieder nach drinnen und ward nicht mehr gesehen.
Schade
, dachte Seog. Er mochte Tiere. Das war der Grund, warum er, obwohl er dem Pfad des Kriegers folgte, nie das Bogenschießen erlernt hatte. Irgendwann musste jeder Schütze einmal jagen gehen. Für Seog war es schon schlimm genug, die Fischnetze einzubringen, wenn er mit seinem Boot auf dem Nordmeer auf Fangtour gewesen war. Hunderte von zappelnden, glitschigen Fischen, die atemlos und verzweifelt um ihr Leben rangen – es brach ihm jedes Mal das Herz.
Der Regen wurde stärker, so dass das Dorf am Ende der Hangwiesen bald hinter dem Regendunst zu verschwimmen begann. Im Bergwald über ihm begrüßte ein einsamer Wolf die einsetzende Dämmerung mit einem ausgedehnten Heulen. Langsam, aber sicher begann die Kälte Seog nun doch zu stören, und er spielte mit dem Gedanken, sofort loszugehen und nach Gwezhenneg zu suchen. Doch dann fragte er sich:
Was würde Derrien in meiner Situation tun?
Diese Überlegung hatte ihm schon oft weitergeholfen, Derrien war sein großes Vorbild. Würde sich der bretonische Volksheld von simpler Unbequemlichkeit dazu verleitenlassen, vorschnell seine Deckung aufzugeben? Seog schüttelte den Kopf. Natürlich nicht. Er würde warten, solange es nötig war, ganz egal, welche Unannehmlichkeiten er dafür erdulden musste. Also wartete auch Seog.
Doch Tarannis, der Wettergott, schien es gut mit ihm zu meinen. Der Regen ließ mit fortschreitender Dämmerung nach, bis schließlich nur noch ein penetrantes Tropfen aus den nassen Bäumen davon übrig blieb. Währenddessen versank das Dorf in der sich ausbreitenden Dunkelheit.
Seog machte sich auf den Weg. Seine Schritte schmatzten in den feuchten Wiesen, er rutschte und stolperte und ärgerte sich über das Vieh, deren Hufe und Kuhfladen den Hang aufgeweicht und glitschig gemacht hatten. Feuchtigkeit und Dreck sogen sich seine Hosenbeine hinauf und besudelten seine Kleider.
Unter ihm flammte ein flackerndes Licht auf. Seog ließ sich in den Dreck fallen und wartete regungslos. Ein Mann mit einer Fackel erschien im Eingang einer Hütte, beugte sich zu Boden und stellte etwas ab. Dann verschwand er wieder in der Hütte, aus der er gekommen war, und hinterließ ein kleines, orange flackerndes Licht vor seiner Tür. Es war so klein und schwach, dass es nichts in seiner Umgebung beleuchtete, eher eine Art Schmucklicht oder Gedenkkerze, als tatsächlich zur Beleuchtung gedacht. Während sich Seog noch darüber wunderte, was das zu bedeuten hatte, stellte andernorts ein anderer Mann ein zweites solches Licht ab. Seog wartete ab. Und tatsächlich, nur ein paar Augenblicke später war da ein drittes und ein viertes, es wurden immer mehr, bis schließlich vor beinahe jedem Hauseingang ein oder mehrere solcher Lichter brannten. Seog wartete weiter, bis er sich schließlich sicher war, dass sich dort unten nichts mehr tat. Erst dann stand er zögernd auf und ging vorsichtig weiter. Die Wiese endete, er stieg über einen Weidezaun und erreichte ein brachliegendes Feld, wo er bis über die Knöchel im Matsch versank.
Als er näher kam, wurde ihm schließlich klar, was die Lichter zu bedeuten hatten. Es waren Rübenlichter, Kerzen oder Öllampen, die in ausgehöhlten und mit Fratzen versehenen Rübensteckten. Gehässig grinsende Mäuler und böse kleine Äuglein flackerten ihm entgegen, als ob sie auf ihn warteten.
In diesem Moment wurde ihm klar, welcher Tag heute war. Es war Samhain – neben Beltane das höchste Fest der Kelten. Es war die Nacht der Toten, die Nacht, in der die Grenze zwischen dem Reich der Lebenden und der Verstorbenen besonders dünn war. Traditionellerweise baute man an Samhain die Rübenlichter in ganzen Ketten um die Siedlungen
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