Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
Germane folgte einem gefrorenen Bachlauf, der sich mit sanftem Gefälle zum Rand des Sattels erstreckte, um dort plötzlich in einer Serie aus vereisten Wasserfällen in die Tiefe zu stürzen. Der Abhang war von Felsen überzogen, doch immer wieder von Schneefeldern durchsetzt. Seog versuchte, eine einigermaßen ungefährliche Abstiegsmöglichkeit zu erspähen, scheiterte jedoch hoffnungslos.
Aber auch wenn die Wolfsfährte auf dem Fels nur schwer zu verfolgen war, sie führte nach unten und war auf den Schneefeldern in der Tiefe eindeutig zu erkennen. Seog war es schleierhaft, wie sie dort hinunterkommen sollten.
Gautrek jedenfalls schien einen Plan zu haben. Entgegen ihrer vorherigen Besprechung hielt sich der Germane nicht an die Schneefelder, sondern kletterte am Rand des Bachlaufes im Zickzackkurs die Felsen hinab an Stellen, die Seog zuvor nicht für begehbar gehalten hatte. Offenbar zog er die teilweise vereisten Steine dem Lawinenrisiko auf den Schneefeldern vor.
Zögerlich folgte Seog und stellte überrascht fest, dass das Stück nicht so schwer war wie vermutet – es war beileibe nicht einfach, aber es
war
begehbar. Vorsichtig setzte er seine Tritte, stets darauf achtend, mit einem der Beine fest zu stehen, ehe er das andere nachzog. An manchen Stellen musste er den Rücken zum Tal drehen, um sich mit den Händen festzuhalten, während er seine Füße zu neuen Tritten hinabließ. Seine Hände waren bald taub und kalt, doch letzten Endes kam er bald schneller voran als erwartet.
Nach etwa einer halben Stunde Kraxelei erreichte er Gautrek, der auf einem kurzen schneebedeckten Stück auf ihn wartete. Der Germane hatte seinen Wasserschlauch vom Rucksack genommen und nahm einen großen Schluck, ehe er sich mit dem Ärmel über den Mund wischte. Sein Schnurrbart, einst wallend und stolz, hing über seiner Oberlippe wie eine ertränkte Maus.
»Was denkst du?«, fragte Seog.
Gautrek zuckte mit den Schultern. »Wollt Ihr die schonungslose Wahrheit hören, Herr? Oder reicht Euch eine etwas angenehmere Halbwahrheit?« Dabei sah der Germane mit zusammengekniffenen Augen nach oben, um das Vorankommen der Flüchtlinge zu beobachten.
Für einen Moment fühlte sich Seog auf den Arm genommen, doch Gautrek wirkte nicht so, als ob er einen Scherz gemacht hätte. Langsam begann Seog zu vermuten, dass diese zynische Redeweise schlichtweg die Art des norðmaðrs war. »Die schonungslose Wahrheit«, antwortete er deshalb.
Gautrek nickte. »Das, was wir hier tun, ist ein riesengroßer Blödsinn«, erklärte er unverhüllt. »Absoluter Wahnsinn. Wir schreien geradezu nach einem Unfall. In der Außenwelt hätte ich meine Kinder niemals auf eine solche Tour mitgenommen. Ach, was rede ich? Ich wäre selbst nie auf eine solche Tour gegangen, das ist einfach mörderisch! Ich verstehe nicht, warum uns der Geist das abverlangt.«
Seog verstand es ebenfalls nicht, obwohl er bereits darüber nachgedacht hatte. Wollten ihn die Geister demütigen, indem siedafür sorgten, dass er einige seiner Flüchtlinge verlor? War es ihnen egal, weil sie ohnehin vorhatten, sie umzubringen? War es ihnen egal, weil – es ihnen einfach egal war? Wer konnte schon sagen, was ein Geist dachte? Einer der Druiden aus Bagbeg hatte ihm einmal erzählt, dass die Geister mit zunehmendem Alter und wachsender Macht unverständlicher und merkwürdiger wurden, und der Geist des Germanenwaldes war zweifellos alt und mächtig. Oder verwechselte Seog da etwas? Er hatte die wenigen Male, wo sich sein Unterricht nicht um die Kriegskunst gedreht hatte, meist nicht so gut aufgepasst, wie er es sich heute wünschen würde …
»Wenn hier einem der Kinder etwas zustößt«, fuhr Gautrek, dem die Pause offenbar zu lange geworden war, mit kaum verhohlener Wut fort, »werde ich diesem verdammten Geist mit meinen eigenen Händen den Kragen umdrehen!«
»Nein, das wirst du nicht.« Hier fühlte sich Seog auf sichererem Gebiet, der Kampf gegen Geister war ein wichtiger Bestandteil seines Pfades. »Du hast weder die Waffen noch die Ausbildung dazu.«
»Ha.«
»Noch eine Frage.« Seog hatte schon eine ganze Weile darüber nachgegrübelt. »Du hast vorhin gesagt, dass du noch nie in einem Schildwall gestanden hast, richtig?«
Gautrek warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Ja. Warum?«
»Wo hast du dich dann so arg verletzt?«
Der Germane hob instinktiv die Hand, um mit Zeige- und Mittelfinger die Narbe zu berühren, die von seiner linken Schläfe zu den Resten seines
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