Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
immer nicht um Hilfe. Nur ein Schluchzer schaffte es über ihre Lippen, der in der Stille erschreckend laut wirkte.
»Leise, verdammt!«, zischte eine Stimme überraschend nah bei ihrem Ohr und ließ sie zusammenzucken. »Du weckst noch den ganzen Turm!«
Keelin wagte nicht sich zu rühren. Furcht schien ihren Körper zu Stein erstarrt zu haben.
Kurz darauf klirrten ihre Ketten, als mit einem metallischen Schnappen eines der Schlösser aufsprang. Eine Berührung am Knöchel ließ sie zusammenzucken, doch dann verschwand der Druck der eisernen Fußfessel, und Keelin wurde klar, dass der Mann hier war, um sie zu befreien. Gleich darauf öffnete er auch die zweite Fußfessel, woraufhin er sich an den Eisen um ihre Handgelenke zu schaffen machte.
»Keinen Ton!«, befahl er, nachdem er sie befreit hatte. »Komm mit.« Sein Englisch war gut und fast akzentfrei.
Damit ergriff er ihre Hand und führte sie durch den Raum. Er legte ihre Hand auf die Leiter, kletterte dann beinahe lautlos nach oben. Keelin folgte ihm langsamer, vorsichtiger, deutlich weniger leise. Sie war in der Finsternis praktisch blind.
Als sie oben angekommen war, griff er ihr unter die Schulter, um ihr sicher von der Leiter auf den Boden des Stockwerks zu helfen. Schrittweise führte er sie durch den Raum, nicht in geraden Linien, sondern in Ecken und Kurven, vielleicht, um an den ermordeten Wächtern vorbeizukommen, vielleicht, um quietschende Dielen zu vermeiden. Sie fragte nicht nach, auch nicht, als der Mann die Turmtür öffnete und schwaches Sternenlicht in den Raum fiel.
Er war klein, nicht viel größer als Keelin selbst. Das ließ unter den Jarlen der Versammlung nur einen Einzigen übrig.
Wolfgang.
»Was ist?«, zischte er, als sie ihm auf seinen Zug an ihrem Arm hin nicht folgen wollte. »Wenn ich dich umbringen wollte, hätte ich das auch dort drinnen erledigen können!«
»Dort drinnen wüsste man, dass es ein Germane war. Wenn Ihr mich draußen umbringt, könnt Ihr behaupten, ich wäre entkommen!« Ihre Stimme klang rau und heiser.
»Sie würden niemals glauben, dass du entkommen bist! Sie würden sofort wissen, dass ich es war, der dich befreit hat!«
Keelin zögerte noch. »Dann werden sie das morgen auch wissen, wenn Ihr mich nur befreit und nicht tötet!«
»Das ist der Grund, warum wir uns nicht erwischen lassen dürfen, verdammt! Komm mit!«
»Warum sollte ich Euch vertrauen?« Sie bewegte sich keinen Millimeter.
»Thor und Odin! Denk nach, verdammt! Wenn ich dich so dringend hätte tot sehen wollen, hätte ich Æthelberts Forderung nach einem Standgericht unterstützt!«
Keelin hielt inne. Damit hatte er wohl Recht. Ohnehin war er ihr nie wie ein Mörder vorgekommen, vermutlich waren es allein die Stimmen gewesen, die ihn in jener Nacht zu seinem Angriffauf sie getrieben hatte. Ahnenwut schien er im Moment jedoch nicht zu empfinden. Noch nicht zumindest. Mit einem mulmigen Gefühl folgte sie ihm nach draußen.
Dünner Nebel lag über der Süderelbe. Der Himmel war frei und sternenübersät, mit nur wenigen Wolken und einer blassen Mondsichel. Es war so dunkel, dass sie nur Schemen und Schatten erkennen konnte. Wolfgang führte sie zu einem der Durchbrüche im Palisadenwall, in dem zwei der germanischen Drachenschiffe lagen, die Ruder eingezogen, die Vorder- und Achtersteven kantig und frei von den mythischen Kreaturen, die sonst auf ihnen thronten.
»Ich hoffe, du kannst schwimmen!«, murmelte Wolfgang.
Keelin erstarrte, als sie viel zu spät kapierte, was er vorhatte. Das Déjà-vu brach über sie herein wie eine Welle, die sie davonspülte und gegen die Felsen schmetterte. Ihr Mund trocknete aus, als sie zurück an ihre erste Flucht von der Harburg dachte, an Brynndrech und an den verzweifelten, verbitterten Monat im Elbwatt. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass sie es gewesen war, deren Zögern dem jungen Waliserdruiden die Wunde eingebracht hatte, an der er letztendlich gestorben war, und auch nicht daran, dass ihre Heilkunst ihm nicht hatte helfen können, doch es war zu spät. Die Erinnerung war da. Tränen stiegen in ihre Augen und ließen sie schluchzen und zittern.
»Verdammt, was ist denn …«, fluchte Wolfgang, ehe er in deutlich sanfterem Tonfall hinzufügte: »Keelin, alles in Ordnung? Keelin?«
Aber nichts war in Ordnung, schon so, so lange nicht mehr, und es würde auch nie mehr in Ordnung sein. Brynndrech war tot, unwiederbringlich tot, und sie Trottel hatte erst im allerletzten Moment
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