Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
ebenso hatte ihm Ronan beigebracht, dass ein selbstbewusstes Auftreten die Moral der eigenen Männer stärkte und die des Gegners schwächte. »Wenn ich wollte, könnte ich dir mit meinem Schildboss das Hirn aus dem Schädel prügeln und dir die Kehle hinunterpissen, und du könntest nichts dagegen tun, als dir in die Hosen zu scheißen.« Das war eine Zeile, die er lange und oft geübt hatte. »Aber tote Germanen helfen mir nicht weiter, ich würde lieber Schatten töten als euch. Strenge dein Hirn an, Gautrek. Auf der großen Treppe wurden Truppen gesehen, in der Nacht von Sonntag auf Montag. Hast du die Glocke läuten hören? Hat hier irgendjemand die Glocke läutenhören? Nein! Und wer befiehlt euch nun, nach Åndalsnes zu gehen? Eure Fürstin, die Wache hält in der Festung Trollstigen? Nein, sondern nur ein Jarl aus der Stadt.« Seog musterte die Gesichter der Anwesenden, sowohl der Germanen vor ihm als auch der Bretonen, die sich mittlerweile seitlich um ihn geschart hatten. So weit hatten ihn Wut und auswendig gelernte Floskeln also gebracht. Die Germanen hielten still, waren beeindruckt. Nun galt es, ihre Emotionen zu packen. Er holte tief Luft und rief: »Was bedeutet das?, fragt ihr euch. Ich sage es euch: Sie haben euch kalt erwischt! Eure Fürstin ist tot, die Schatten haben Trollstigen und belagern Kêr Bagbeg! Was, glaubt ihr, werdet ihr ausrichten gegen eine solche Streitmacht?«
Gautrek, noch immer misstrauisch, sah Seog mit zusammengekniffenen Augen an, doch seine Männer hatten bereits den Mut verloren. Aber nicht nur sie, auch die Bretonen waren erschüttert. Überall sah Seog Furcht und Schrecken in den Gesichtern.
»Deshalb will ich, dass ihr mir folgt«, fuhr Seog mit dem Motivationsteil der Rede fort. Es war die Abwandlung einer Ansprache, die er vor Jahren einmal in tagelanger Arbeit vorbereitet hatte, auf Befehl des Fürsten Ronan, der selbst kein guter Redner war und meist nur auswendig gelernte Texte gesprochen hatte, und das mit Hilfe seiner Eltern. Nun war der Moment, in dem er sie brauchen konnte. »Ich bin Krieger-Druide! Ich bin Bretone! Das hier ist MEIN Fjord, MEIN Tal, und ich werde nicht zulassen, dass die Schatten dieses Land unter ihr Joch zwingen! Ich werde weiterkämpfen, aber dafür brauche ich Männer, die mir folgen, die bereit sind, ihre Klingen blankzuziehen gegen die Schatten! Männer, die für das kämpfen, das ihnen gehört! Ich brauche stolze Krieger, die nicht aufgeben, die nicht weglaufen, die den Schildwall halten können! Krieger, deren Schildarm nicht zittert, deren Schwertarm nicht zögert! Es interessiert mich nicht, ob es Germanen sind oder Kelten oder Kriegsgefangene, ganz egal! Ich brauche Kämpfer!«
Gwezhenneg riss den Schild in die Höhe und schrie zustimmend. Ein paar andere Kelten stimmten mit ein, dann mehr undnoch mehr. Gautrek beobachtete ihn noch immer mit kalkulierendem Blick und skeptisch zusammengepressten Lippen. Als der Jubel lauter und lauter wurde, nickte er schließlich und zog sein Schwert aus der Scheide. Langsam streckte er es in die Höhe. »SEOG!«, brüllte Gautrek über den Lärm des Jubels hinweg. Er stieß das Schwert noch einmal in die Höhe. »SEOG!«
Als die anderen norðmenn ihrem Anführer folgten, wurde der Name zum Schlachtruf. Seog hatte gewonnen.
KEELIN (2)
Harburg bei Hamburg, Deutschland
Mittwoch, 03. November 1999
Die Innenwelt
Seit Jarl Wolfgangs Prügeln waren nun anderthalb Tage vergangen. Anderthalb Tage, in denen sich nicht viel getan hatte in Keelins Gefängnis. Dreimal am Tag wurde die Falltür in der Decke geöffnet, damit einer der Germanen ihr Essen bringen und den Kübel ausleeren konnte. Gestern hatte Fürst Herwarth sie zweimal besucht, einmal, um eine Öllampe im Verlies abzustellen, damit Keelin nicht in völliger Dunkelheit vor sich hindämmerte, das andere Mal, um ihr mitzuteilen, dass Wolfgang sie vor einem
Thing
der Germanen anklagen würde. Er hatte ihr sogar die Gründe für Wolfgangs Entscheidung genannt: Gudrun war seine Geliebte gewesen, bevor sie in der Samhain-Nacht in einer Schlacht gegen die Nain umgekommen war. Der Verlust hatte einen sonst eher ausgeglichenen Jarl verwirrt und rastlos zurückgelassen.
Die Nachricht hatte sie schwer enttäuscht. Sie hatte gehofft, dass Wolfgang seinen Fehler einsehen, dass er noch einmal mit ihr reden würde. Doch offenbar wagte er es nicht, ein zweites Mal zu ihr in das Verlies herabzusteigen, aus Angst vor seinen Stimmen und seiner
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