Schattenfluch: Druidenchronik. Band 3 (German Edition)
angeschlagenen Selbstbeherrschung. Sie würde ihn erst vor Gericht wiedersehen.
Dabei hatte sie eine sehr gute Ahnung, wer es gewesen war, der in jener Nacht Mordgedanken gehegt hatte. Herwarth, der die Gästeliste offenbar besser gekannt hatte als Wolfgang, hatte ihr bestätigt, dass Derrien zu denen gehörte, denen in der Nacht des Attentats die Flucht von der Harburg geglückt war. Keelin hatte sich daran erinnert, dass Derrien noch im Juli beim großen Kriegsrat im Glen Affric voller Hass gegen die Germanen gewetterthatte. Dass er dann nur zwei Monate später an der diplomatischen Mission in Hamburg teilgenommen hatte, hatte sie schon damals verwundert. Nun erschien es klarer. Und außerdem hatte Wolfgang erwähnt, dass Derrien bereits vorher versucht hatte, Gudrun zu töten. Es war geradezu offensichtlich, dass er der Attentäter war. Das Unangenehme war nur, dass sie das als Mithelfer nicht ausschloss.
Sie schluckte, als sie daran dachte, dass für diese kleinlichen Rachegedanken des Schattenfeindes Brynndrech hatte sterben müssen. Ohne den Aufruhr in der Nacht hätte er nie die Wunde erlitten, wären sie nie in das Elbwatt geflohen. Dass Derrien auch an ihrer eigenen Misere schuld war, war dabei schon beinahe nebensächlich. Sie hasste ihn. Sie hasste Derrien, wie sie bisher nur einen einzigen Menschen gehasst hatte.
Heute hatte sie zu Mittag einen Eintopf erhalten, aus Ackerbohnen, Linsen und Speck. Das Gemüse war verkocht, der Speck salzig, aber das störte sie nicht. Sie hatte auch vorher schon keinen Appetit gehabt und musste sich ohnehin zwingen, etwas herunterzubringen. Immerhin war es etwas Warmes, was in der unangenehmen, feuchten Kälte des Verlieses nur allzu willkommen war. Und dank Herwarths Lampe konnte sie inzwischen sogar sehen, was sie da aß. Das Gemüse war erträglicher, wenn man wusste, dass es Gemüse war und nicht irgendetwas Unsägliches, was sich der germanische Koch für sie ausgedacht hatte.
Als sich die Luke mit lautem Quietschen öffnete, während sie noch mit Essen beschäftigt war, war Keelin deshalb mehr als überrascht – eigentlich hätte sie erst am Abend wieder mit Besuch gerechnet. Sie erhob sich, um dem Germanen Respekt zu erweisen, jedoch ohne den hölzernen Napf aus der Hand zu legen. Sie schuldete Eibe einen gesunden Körper, und dazu gehörte nun mal das Essen.
Dieses Mal waren sie zu zweit. Während sie die Leiter herabkletterten, stieg einmal mehr die alte Furcht in Keelin auf, doch sie riss sich zusammen und löffelte schnell die letzten Reste des Eintopfs in sich hinein.
»Herrin Keelin«, murmelte einer der Männer in stark akzentuiertem Englisch zur Begrüßung. »Bitte macht keine Schwierigkeiten.«
Ein Schlüsselbund klirrte in seiner Hand, als er sich zu ihren Ketten beugte, während der andere mit einem blankgezogenen Kurzschwert in der Hand darüber wachte, dass sie sich auch wirklich benahm. Das Schloss, das ihre Beinketten mit der Wand verband, sprang mit einem lauten Klicken auf. Sie hoffte bereits, dass er ihr auch die Arm- oder zumindest die Beinketten abnehmen würde, doch da deutete er bereits zur Leiter. Mit rasselnden Ketten ging sie hinüber und kletterte vorsichtig nach oben.
Helles Tageslicht erwartete sie, so grell, dass sie für einen Moment geblendet das Gesicht abwenden musste. Tränen traten in ihre Augen und ließen sie zwinkern, doch der Mann, der oben auf sie gewartet hatte, ließ ihr keine Zeit, sich daran zu gewöhnen. Unsanft packte er sie an der Schulter und zog sie in Richtung des Ausgangs.
»Ich komme doch schon«, murmelte sie in ihrem brüchigen Deutsch.
»Halt dein Maul!«, knurrte der Mann, der sie gepackt hielt. Nun, da sie etwas klarer sah, erkannte sie in ihm den Kommandanten der Garnison, Æthelbert, mit dem sie bei ihrer Gefangennahme kurz gesprochen hatte. Er war seitdem nicht freundlicher geworden.
Kalter Westwind strich über die kurzen Stoppeln auf ihrem Kopf, als sie nach draußen trat. Die Luft roch nach Watt und Moder und wirkte dennoch unglaublich frisch, nachdem sie die letzten beiden Tage in ihrem eigenen Gestank im Verlies unter der Harburg verbracht hatte. Æthelbert ließ ihr jedoch keine Zeit, sich darüber zu freuen. Zielgerichtet zog er sie in Richtung der Halle. Keelin sah sich um, gierig danach, alles in sich aufzunehmen, bevor sich erneut Mauern um sie herum schlossen. Sachsenkrieger standen auf den Kampfplattformen der Palisade und hielten Wache. Andere befanden sich auf dem Gelände und
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