Schattenfluegel
Sache immer noch unter Verschluss gehalten werden sollte, beschloss sie, wenigstens die Libelle in Maries Hand für sich zu behalten.
Schattenflügel.
Sie fröstelte.
Herrn Schröders Gesicht verzog sich vor Entsetzen. »Oh Gott! Und ich habe die ganzen Jahre …«
»Schon gut!«, wehrte Kim ab. »Sie wussten es ja nicht.«
»Stimmt.« Er seufzte. »Aber was für eine schlimme Sache! Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, sagst du mir Bescheid, in Ordnung?«
»Ja. Danke.« Kims Hand krallte sich fester um den Riemen ihrer Tasche. Dann schob sie die bösen Erinnerungen energisch fort und fragte: »Kann ich jetzt gehen?«
»Natürlich!« Herr Schröder setzte sich auf seinen Stuhl. Er war ziemlich grau im Gesicht.
Kim nickte dem Lehrer zu, dann verließ sie den Biosaal.
Zu ihrer Erleichterung wartete vor der Tür niemand ihrer Mitschüler, um sie auszuquetschen. Die anderen waren längst draußen auf dem Pausenhof.
Kim heftete den Blick auf den Boden vor sich und folgte ihnen langsam.
Die Ecke hinter den Büschen, wo sie erst kürzlich mit Lukas zusammengestanden hatte, war leer und so machte Kim sie für diese Pause zu ihrem Zufluchtsort.
Die neugierigen Blicke der anderen brannten auf ihr, aber sie schaffte es, abweisend genug auszusehen, sodass niemand sie ansprach. Nicht einmal Sabrina kam zu ihr, und das wiederum schmerzte Kim sehr.
Sie lehnte sich gegen die Mauer und versuchte, an gar nichts zu denken. Die Sonne schien auf ihr Gesicht und sie schloss die Augen. Der Lärm der anderen gellte in ihren Ohren. Aber auch das nahm Kim nur gedämpft wahr.
»Darf ich?« Lukas’ Stimme war sehr leise.
Kim zuckte zusammen. Er stand direkt vor ihr. Sie war unfähig zu reagieren und er schien die Angst und Verwirrung in ihrem Blick zu sehen. Seine Miene verdüsterte sich und er trat einen Schritt zurück. Auf einmal wirkte er unendlich verletzt, die dichten Wimpern beschatteten seine traurigen Augen. »Du denkst, dass ich es war, oder?« Er sprach ganz ruhig.
Kim schluckte. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie wollte ihm so vieles erklären, wollte ihm sagen, dass sie es nicht glauben konnte, dass er ein Mörder war, wollte ihm sagen, dass sie sich unsterblich in ihn verliebt hatte, dass sie kaum Luft bekam, weil sie sich so zerrissen fühlte. Sie wollte von ihm in den Arm genommen und getröstet werden und gleichzeitig wollte sie vor ihm davonrennen. Es war ein völlig absurdes, kaum auszuhaltendes Gefühlsgemisch, das über sie hereinbrach und ihr die Kehle zuschnürte. Sie spürte, wie Tränen aus ihren Augen hervordrängten.
Auch Lukas bemerkte das. In seinem Gesicht zuckte ein einzelner Muskel und er stöhnte leise auf. »Ich war es nicht, Kim!«, flüsterte er. »Das musst du mir glauben!«
»Kann ich das?«, krächzte sie.
Da wich er noch einen Schritt zurück. Die umherstehenden Schüler hatten ihr Gespräch längst bemerkt und beobachteten jetzt jede ihrer Bewegungen. Es war Kim egal. Alles, was zählte, war Lukas. Sein blasses Gesicht war noch ein bisschen weißer geworden.
Sie sah, wie er die Fäuste ballte. Für einen kurzen Moment wirkte er zornig, dann wurde ihm bewusst, was er tat, und er zwang sich, die Hände wieder zu öffnen. Wenn das überhaupt noch möglich war, wurde sein Blick noch ein bisschen trauriger. »Schon klar«, murmelte er.
Dann wandte er sich ab.
Kim wollte ihn aufhalten, wollte etwas sagen, aber sie wusste nicht, was. Also schwieg sie. Mit Tränen in den Augen sah sie zu, wie Lukas sich durch die umstehende Menge drängte.
Er kam nicht weit.
Jonas und zwei seiner Kumpel traten ihm in den Weg und zwangen ihn, stehen zu bleiben.
Herausfordernd rempelte Jonas ihn an. »Na, warst du es?«, fragte er so laut, dass nun auch noch der letzte Schüler auf das Geschehen aufmerksam wurde.
Lukas wich einen Schritt zurück. Wieder ballte er seine Hände zu Fäusten, diesmal öffnete er sie nicht mehr. »Lass mich einfach in Ruhe!«, sagte er. Seine Stimme zitterte ein wenig.
»So, wie du Marie in Ruhe gelassen hast, du Mörder!«, schrie Jonas ihn an.
»Ich habe ihr …« Lukas kam nicht dazu, zu Ende zu reden, denn jetzt rammte Jonas ihm mit voller Wucht die Faust in den Magen.
Lukas klappte zusammen, aber er blieb auf den Beinen. Mit beiden Händen hielt er sich den Bauch. Dann richtete er sich langsam wieder auf. Kim wartete darauf, dass er sich als Nächstes auf Jonas werfen würde. Doch er tat es nicht. Stattdessen warf er einen Blick zu Kim zurück
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