Schattenfluegel
letzte Mal, als ich Marie gesehen habe, haben wir uns gestritten.«
»Und du hast Schuldgefühle deswegen?«
Kim antwortete nicht. Ja, sie hatte Schuldgefühle. Aber eigentlich mehr weil sie nicht gleich Alarm geschlagen hatte, am Samstag.
»Wart ihr gute Freundinnen?«, fragte Dr. Schinzel weiter.
Kim biss sich auf die Oberlippe. »Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht so genau.«
Dr. Schinzel nickte nur. Dann schwieg er eine Weile. Kim konnte seine Armbanduhr ticken hören, die er wie immer auf der Schreibtischplatte abgelegt hatte.
»Du hast eben gesagt, dass du im Moment nicht wegen Marie so traurig bist«, sagte der Psychiater. Kim dachte nach, aber im Grunde wusste sie ganz genau, was sie gemeint hatte. Es fiel ihr nur schwer, sich das jetzt auch einzugestehen. Und es laut auszusprechen. »Ich bin eigentlich wegen Lukas viel trauriger.«
»Lukas.«
»Das ist der Junge, über den wir neulich schon mal gesprochen haben. Derjenige, Sie wissen schon …« Sie erzählte ihm ein wenig von Lukas, darüber, wie sie ihn kennengelernt hatte und von seiner Mutter im Pflegeheim. Dann schwieg sie. Dr. Schinzel wartete. Er wusste, dass noch etwas kommen würde.
Sie räusperte sich. »Ich bin traurig, weil es sein kann, dass Lukas der Mörder von Nina und Marie ist.« Sie hörte in diesem Moment ihren Kopf sprechen, aber ihr Herz schrie dagegen an: Das ist unmöglich! Du weißt, dass es nicht stimmt!
»Weil es sein kann?« Dr. Schinzel sah überrascht aus. Kim erklärte ihm, was sie gemeint hatte, und sie erzählte von Lukas’ Verhör und dem Gespräch, das sie am Morgen mit Kommissar Weidenschläger geführt hatte.
»Die Polizei kann ihm also nichts nachweisen«, sagte der Psychiater.
»Weil er es nicht war!«, fuhr Kim auf. Sie hatte sich auf die Armlehnen ihres Sessels gestützt und dabei halb vorgebeugt.
Dr. Schinzel sah sie nur schweigend an. Da ließ sie sich wieder zurücksinken. »Ich will nicht, dass Lukas ein Mörder ist«, murmelte sie. »Ich will ihm glauben, dass er es nicht war. Aber ich weiß nicht, ob ich es kann.«
»Hat er dir gesagt, dass er es nicht war?«
Sie dachte daran, wie er in der Schulhofecke vor ihr gestanden hatte, und an den Blick, den er ihr zugeworfen hatte, nachdem Jonas ihn zusammengeschlagen hatte. Seufzend raufte sie sich die Haare. »Das alles ist so irrsinnig! Mein Kopf rät mir, vorsichtig zu sein, aber mein Herz spricht zur gleichen Zeit eine ganz andere Sprache. Ich weiß einfach nicht, auf wen von beiden ich hören soll.« Plötzlich standen ihr Tränen in den Augen. Schnell wischte sie sie fort.
»Lass sie laufen«, riet Dr. Schinzel und das tat sie dann auch.
Lange saß sie einfach nur da und weinte lautlos. Dr. Schinzel schob ihr eine Packung mit Kleenex-Tüchern über den Schreibtisch. Dankbar nahm sie eines, putzte sich die Nase.
»Wenn jetzt eine Fee kommen und dir einen Wunsch erfüllen würde«, sagte er, »was wäre das?«
Noch vor wenigen Tagen hätte Kim die Antwort auf diese Frage sofort gewusst. Dass Nina wieder lebendig ist, hätte sie gesagt. Dass DAS BÖSE nie geschehen ist. Jetzt jedoch zögerte sie. »Dass Lukas unschuldig ist«, hatte sie im ersten Moment sagen wollen, aber das kam ihr so furchtbar egoistisch vor. Zwei Mädchen waren tot, eines davon war ihre Schwester. Und der Einzige, an den sie denken konnte, war Lukas?
»Was denkst du gerade?«, fragte der Psychiater, als sie immer noch nicht antwortete.
Sie erklärte es ihm. Zwar fand sie nur unzureichende Worte für die Schuldgefühle, die sie so fest im Griff hatten, aber er schien sie trotzdem zu verstehen.
»Was glaubst du, warum du so fühlst?«, fragte er. »Ich meine, warum du dich um Lukas mehr sorgst, als um Marie oder Nina zu trauern.«
Die Antwort lag auf der Hand, dachte Kim. Trotzdem wagte sie nicht, sie auszusprechen.
Dr. Schinzel wartete. Seine Uhr tickte leise vor sich hin. Draußen vor dem Fenster hupte ein Auto.
Schließlich gab Kim sich einen Ruck. »Weil ich mich in ihn verliebt habe.« Sie flüsterte nur, aber ihre Worte kamen ihr in der eigenartigen Stille des Behandlungszimmers dröhnend laut vor.
Kapitel 19
Als Kim nach der Therapiestunde nach Hause kam, stand ein kleiner roter Sportwagen vor der Tür, den sie nur allzu gut kannte.
Er gehörte ihrer Mutter.
Kim öffnete die Haustür und trat in den Flur. »Mom?«, rief sie, noch während sie sich die Schuhe von den Füßen streifte.
Die Küchentür ging auf und Sigurd streckte den Kopf heraus. »Wir sind
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