Schattenfluegel
Haarspray hochtoupiert. »Wie ist Marie denn gestorben?«
»Valentin!«, wies Dr. Heuer ihn scharf zurecht. »Ich glaube nicht, dass es angemessen ist, hierüber jetzt zu spekulieren. Und wir sollten auf jeden Fall vermeiden, dass diese Geschichte die gute, vertrauensvolle Atmosphäre an unserer Schule kaputt macht. Lasst die Angst jetzt nicht die Kontrolle übernehmen! Ich gehe davon aus, dass der Mörder außerhalb der Albert-Einstein zu suchen ist … und ich bitte euch, verfallt nicht in Panik! Seid vorsichtig, sobald ihr nach draußen geht. Aber hier drinnen seid ihr absolut sicher.«
Sicher? Was redete der da für einen Blödsinn?
Kim versuchte, im Gesicht des Rektors zu lesen, ob er das, was er sagte, wirklich glaubte, aber es gelang ihr nicht. Wusste Dr. Heuer davon, dass die Polizei Lukas, einen Schüler seiner Schule, verdächtigte?
Was war überhaupt mit Lukas geschehen, nachdem er gestern mit aufs Revier gegangen war? Ob sie ihn eingesperrt hatten? Saß er in Untersuchungshaft, weil weitere Hinweise den Tatverdacht verstärkt hatten?
Kim umschlang ihren Oberkörper mit den Armen und ertappte sich dabei, dass sie nach Lukas Ausschau hielt. Wenn er jetzt auftauchen würde, dann hieße das doch, dass die Polizei ihn verhört und wieder laufen gelassen hatte. Und dass es keinen Grund gab, ihn weiter für den Mörder zu halten.
Weiter vorne kletterte Dr. Heuer von der Bühne und verschwand wieder in seinem Arbeitszimmer.
»Also«, sagte eines der Mädchen, die Kim ihren Platz überlassen hatten, »der Alte kann reden, was er will! Solange nicht klar ist, wer Marie umgebracht hat, gehe ich nur noch mit dir zusammen aufs Klo!«
Ihre Freundin nickte zustimmend. »Ja«, murmelte sie. »Das ist eine gute Idee.«
In diesem Moment klingelte es zur ersten Stunde.
Die Menge zerstreute sich jetzt langsam. Jeder sprach nur von Marie und ihrem schrecklichen gewaltsamen Tod, und als Herr Schröder, der Biolehrer, sich vor Kim aufbaute, war sie so in Gedanken versunken, dass sie erschrocken zusammenzuckte.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Herr Schröder entschuldigend. In seinem Blick lag Mitgefühl und Kim wusste, dass er an Nina dachte und daran, wie sie gestorben war. »Ich sehe, wie sehr dich die Sache mitnimmt. Willst du nicht lieber nach Hause gehen?«
Kim schüttelte den Kopf. Warum kümmerte Schröder sich plötzlich so fürsorglich um sie?, dachte sie genervt. Die ganzen letzten zwei Jahre hatte sie ihn darum gebeten, die Bildtafeln mit den Libellen abzuhängen, und es war ihm vollkommen egal gewesen, wie es ihr ging. Da konnte sie jetzt auch auf seine Fürsorge verzichten! Sie war kurz davor, ihm genau das ins Gesicht zu sagen, aber dann verließ sie doch wieder die Kraft dazu. Mühsam stand sie auf.
»Nein«, sagte sie, den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet. »Hier in der Schule fühle ich mich sicherer.«
Das war eine glatte Lüge. Sie hatte eher das Gefühl, nirgendwo mehr richtig sicher zu sein. Als würde der Täter sie von nun an überallhin verfolgen und jeden ihrer Schritte registrieren. Es war ein beklemmendes Gefühl.
»Gut«, meinte Schröder. »Ich lasse dich noch ein bisschen zur Ruhe kommen. Wenn du meinst, du bist so weit, dann komm einfach in den Biosaal, okay?«
Kim nickte stumm. Sie ertappte sich dabei, dass sie in Richtung Eingangstür schielte. Aber dort war niemand.
Von Lukas nach wie vor keine Spur.
Herr Schröder ging in seinen Unterricht und Kim sank zurück auf die blaue Bank. Sie schaffte es einfach nicht, jetzt zu den anderen zu gehen. Die Vorstellung, dass noch immer diese Bildtafel an der Wand hing, dass sie den Anblick der Libellen darauf ertragen müsste, war einfach zu viel für sie.
Libellen.
Was wollte der Mörder mit ihnen ausdrücken?
Eine auf Ninas Gesicht. Eine in Maries Hand.
Schattenflügel.
Und dieser Flügel in Lukas’ Jacke. Ihr Magen krampfte sich zusammen bei der Vorstellung.
»Na?«, hörte sie in diesem Moment eine spöttische Stimme hinter sich. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Jonas war, der sich breitbeinig dort aufgebaut hatte und grinsend auf sie herunterblickte.
»Lass mich einfach in Ruhe«, murmelte sie matt. Sie hatte nicht das kleinste bisschen Energie, um sich jetzt mit ihm auseinanderzusetzen.
»Was ist eigentlich mit deinem Typen?«, fragte Jonas unbeeindruckt. »Warum ist er heute nicht da? Haben die Sheriffs ihn etwa gleich eingelocht?«
Kim rührte sich nicht. Sie musste sich einen Panzer
Weitere Kostenlose Bücher