Schattenfluegel
hier.«
Kim hängte ihre Jacke an den Haken und ließ ihre Schultasche darunter fallen, dann lief sie in die Küche. Johanna saß auf der Bank und grinste Kim an. Das gebrochene Bein steckte in einem futuristisch aussehenden Apparat, der um Ober- und Unterschenkel geschnallt war. Kim vermied es, einen Blick auf die Schrauben zu werfen, die in Johannas Knie verschwanden.
»Hallo, Schätzchen!«, sagte ihre Mutter. »Ich würde gern aufstehen, um dich zu umarmen, aber …«
Kim stürzte ohne ein Wort auf sie zu, warf sich in ihre Arme. Tief sog sie den so vertrauten Geruch von Johannas Parfüm ein. »Warum bist du hier?«, fragte sie. »Sigurd hat gesagt, die Ärzte lassen dich nicht raus.«
Johanna ließ Kim los und lachte. »Das klingt ja gerade so, als würde ich im Knast sitzen!« Es sollte ein Scherz sein, das wusste Kim, aber unwillkürlich musste sie bei diesen Worten an Lukas denken. Ihre Mutter bemerkte den Schatten, der über ihr Gesicht gehuscht war. Sofort wurde sie ernst. »Ich habe gedacht, dass du mich jetzt einfach dringender brauchst.« Im nächsten Moment grinste sie schon wieder. »Die Klinik muss erst erfunden werden, die mich einsperren kann!« Kim bewunderte die Leichtigkeit, mit der sie ihre Stimmungen wechseln konnte. Früher hatte Kim diese Fähigkeit auch besessen. Sie war ihr nach Ninas Tod abhandengekommen und nie wieder zurückgekehrt.
Kim wies auf das Gestell an Johannas Bein. »Wie bist du damit gefahren?«, fragte sie und dachte an den roten Sportwagen vor der Tür.
Johanna klopfte gegen das Gestell. »Ein anderer Patient hat mich gefahren. Er ist heute entlassen worden und wohnt hier ganz in der Nähe. Ich dachte mir, das ist ein Wink mit dem Zaunpfahl.«
Kim musste lächeln bei der Vorstellung, wie Johanna mit dem behandelnden Arzt stritt, der sie auf keinen Fall nach Hause lassen wollte. Das Gestell mit den Schrauben sah wirklich furchterregend aus und wahrscheinlich taten die lange Fahrt und die viele Anstrengung Johannas kaputtem Knie überhaupt nicht gut. Trotzdem war sie hier. Ganz einfach, weil sie sich Sorgen machte. Das Wissen, dass es so war, erfüllte Kim mit einem warmen Gefühl.
Die ganzen angestauten Emotionen der letzten Tage, die Erleichterung, dass ihre Mutter wieder da war, das alles war mit einem Mal zu viel. Tränen schossen Kim in die Augen. Müde ließ sie sich neben ihrer Mutter fallen, die den Arm um sie legte. Für einige Minuten sagte niemand ein Wort.
Schließlich räusperte Sigurd sich. »Ich mach dir mal einen Kaffee, okay?«
Kim nickte und er ging zur Arbeitsplatte neben der Spüle, wo Johannas überdimensionierte Kaffeemaschine stand. Während er mit Tasse und Milchtüte herumhantierte, zog Johanna Kim noch ein Stückchen näher an sich heran. Normalerweise hätte Kim sich gegen diese mütterliche Fürsorge gewehrt, aber jetzt lehnte sie sich einfach gegen Johannas Schulter und ließ nun endlich den Tränen freien Lauf.
»Mein Schätzchen!« Johanna strich ihr über das Haar, wie sie es früher getan hatte, wenn Kim weinend zu ihr gekommen war, weil sie sich beim Skaten die Knie aufgeschlagen hatte. »Sigurd hat mir alles erzählt. Du musst dich furchtbar fühlen!«
Es gab keine Antwort darauf, also schwieg Kim.
»Haben sie diesen Lukas verhaftet?«, fragte Sigurd von der Kaffeemaschine her. In seiner Stimme lag eine eigenartige Spannung. Kim sah ihn an. Er wirkte nervös. Er macht sich wirklich Sorgen um mich, schoss es ihr durch den Kopf und wieder begannen die Tränen zu laufen. Mit der flachen Hand wischte sie sich über beide Wangen und machte sich aus Johannas Umarmung los. »Sie haben ihn zum Verhör geholt, aber dann wieder laufen gelassen.«
Johanna beugte sich vor, soweit ihr Gestell das zuließ, und musterte Kims Gesicht mit einem prüfenden Blick. Wieder wurde es sehr still in der Küche. Alle drei dachten sie gerade an Nina, das konnte Kim deutlich spüren. Wenn sie an so etwas glauben würde, hätte sie denken können, der Geist ihrer toten Schwester stünde in diesem Moment hier irgendwo in einer Ecke.
»Sie haben ihn laufen lassen?« Sigurd kam mit der gefüllten Kaffeetasse zum Tisch und stellte sie vor Kim ab. Er hatte ihr einen Milchkaffee gemacht. Jetzt holte er die Zuckerdose und einen Löffel. Der Löffel klirrte leise, als er ihn auf der Untertasse ablegte.
»Danke«, murmelte Kim. »Übrigens habe ich mit Kommissar Weidenschläger gesprochen. Heute Morgen in der Schule. Er hat gesagt, dass es gar nicht stimmt, dass
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