Schattenfreundin
»Dass du es überhaupt wagst, so etwas auch nur zu denken!«
»Was hat er denn abends in der Praxis gemacht? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass es nur um Abrechnungen ging …«
»Haben Sie noch Fragen an mich, Herr Kommissar?«, fragte ihn Luise Wiesner würdevoll. »Sonst würde ich mich jetzt gern zurückziehen. Ich möchte mich ein bisschen ausruhen.«
»Natürlich«, sagte Käfer. »Nur noch eins: Kennen Sie diese Frau?«
Käfer zeigte den beiden das Foto aus dem Casa Alekto .
»Es geht um die Frau in der Mitte, die mit den ungewöhnlichen Ohrringen. Sie heißt Annabell Rustemovic. Sagt Ihnen das was?«
Luise Wiesner schüttelte den Kopf.
»Wer soll das sein?«, fragte Frau Ortrup. »Solche Ohrringe hatte auch Tanja.«
»Wir wissen noch nicht, welcher Zusammenhang zwischen dieser Frau und der Täterin besteht«, sagte Käfer.
Luise Wiesner stand auf. »Ich gehe dann jetzt.« Mit gesenktem Kopf verließ sie das Zimmer.
Er wartete, bis er allein war mit Katrin Ortrup. »Wir werden einen DNA-Abgleich machen. Dann wissen wir relativ schnell, ob Ihr Vater auch Tanjas Vater ist.«
Sie dachte nach. »Wenn Tanja wirklich meine Halbschwester ist … Was nützt uns das bei der Suche nach Leo?«
»Sehr viel. Dann haben wir nämlich große Chancen, eine Bezugsperson von ihr ausfindig zu machen. Eventuell ihre leibliche Mutter oder andere Geschwister.« Katrin Ortrup nickte nur.
Nachdem Hauptkommissar Käfer sich verabschiedet hatte, stellte sie sich ans Fenster. Während sie beobachtete, wie er in seinen Wagen stieg und wegfuhr, überlegte sie: Wenn Tanja wirklich eine zweite Tochter ihres Vaters war und wenn er von ihrer Existenz wusste und sie womöglich sogar kannte, dann gab es vielleicht jemanden, der davon wusste. Und wenn es schon niemand aus der Familie war, dann war es vielleicht jemand, der ihrem Vater nahegestanden hatte. Der viel Zeit mit ihm verbracht hatte. Der ihn vielleicht besser kannte als seine Frau oder sie, seine Tochter. Und da kam eigentlich nur eine Person infrage.
Katrin beschloss, Margarethe Brenner zu besuchen, die Sprechstundenhilfe, die über dreißig Jahre lang in der Praxis ihres Vaters gearbeitet hatte.
Charlotte hatte, wie schon befürchtet, niemanden angetroffen. An der Adresse, die Herbert Lanz ihr gegeben hatte, stand mittlerweile ein ziemlich neues großes Haus mit Geschäften und einem Postamt.
Jetzt war sie auf dem Weg zu Thomas Ortrup, um ihn nach der geheimnisvollen Annabell zu befragen.
Charlotte fuhr durch die Ratsstraße und sah schon von Weitem Ben mit einem Hund auf dem Bürgersteig spielen. Sie rollte langsam näher und hielt.
»Kinski! Kinski!«, rief der Junge vergnügt und warf einem struppigen Mischlingshund immer wieder einen Ball zu.
»Hallo, Ben!«
»Hallo!«, rief der Junge fröhlich und warf den Ball wieder in die Luft. »Los, Kinski, hol!«
»Hör mal, Ben, das darfst du nicht tun. Der Ball fliegt immer wieder auf die Straße. Das ist viel zu gefährlich.«
»Aber Kinski fängt den Ball doch immer! Der fliegt nicht auf die Straße. Kinski passt auf!«
Charlotte lächelte. »Wo ist denn deine Mutter?«
»Im Garten.«
»Komm, wir gehen zu ihr. Dann kannst du mit dem Hund im Garten weiterspielen, okay?« Sie parkte den Wagen und stieg aus. Zusammen mit Ben betrat sie das Grundstück. Kinski lief bellend zwischen ihnen her.
Frau Weiler saß hinter dem Haus auf der Terrasse, einen Laptop vor sich auf dem Tisch.
»Hallo, Frau Weiler«, sagte Charlotte. »Ben hat mit dem Hund auf der Straße gespielt, da dachte ich …«
Frau Weiler blickte auf und runzelte die Stirn. »Ben, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst mit Kinski nicht auf der Straße spielen!«
»Aber Kinski …«
»Keine Widerrede. Ihr bleibt im Garten!«
Maulend verschwand Ben mit dem Hund zwischen den Büschen.
»Danke«, sagte Frau Weiler. »Manchmal macht der Kleine einfach, was er will.« Sie wies auf einen Stuhl. »Wollen Sie sich nicht setzen?«
Charlotte nickte. »Sind Sie heute zu Hause?«
Frau Weiler zog die Augenbrauen hoch. »Eigentlich müsste ich in der Kanzlei sein, aber das neue Kindermädchen ist heute Nachmittag verhindert.« Sie seufzte. »Was soll ich machen?«
Charlotte ging nicht darauf ein. Sie hatte nicht viel übrig für berufstätige Mütter, die sich bei jeder Gelegenheit darüber beschwerten, wie böse ihnen das Leben doch mitspiele.
»Ich dachte immer, Ben nennt den Hund Klausi? «
»Was? Ach so, nein, Kinski , der Köter heißt Kinski .
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