Schattenfreundin
»Sie litt sehr darunter, sagte man sich.«
»Was denken Sie, was könnte in der Praxis vor sich gegangen sein?«
»Ich weiß es nicht. Ich möchte es mir auch nicht vorstellen …«
»Sexspiele nach Feierabend …«
Der Geistliche hob abwehrend die Hände. »Bitte! Frau Wiesner ist eine gläubige Christin, sie achtet die Traditionen und die Werte in unserer von Sittenverfall gekennzeichneten Gesellschaft!« Er faltete die Hände. »Ich habe für sie und ihren Mann gebetet.«
»Das hat ja nicht viel gebracht«, murmelte Charlotte.
»Wie bitte?«
»Nichts.« Charlotte gab ihm ihre Karte. »Rufen Sie mich bitte an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
Katrin war frustriert. Der Stapel mit den Unterlagen der infrage kommenden Frauen wurde immer größer statt kleiner. Sie hätte nicht gedacht, dass es so viele vierundsiebziger Jahrgänge in den Patientenakten gab.
Seufzend nahm sie die nächste Akte.
»Annabell Rustemovic.«
Sie erschrak. Die Tote von dem Foto war eine Patientin ihres Vaters gewesen!
Aufgeregt las Katrin die Akte durch. Immer wieder zwang sie sich zur Ruhe. Bleib aufmerksam, sonst übersiehst du das Wichtigste!
Am 25. 3. 1992 wurde bei Annabell Rustemovic eine Schwangerschaft festgestellt. In der achten Woche war die junge Frau damals gewesen, genauso weit wie Katrin jetzt. Es folgten verschiedene Einträge über Blutuntersuchungen und andere Vorsorgemaßnahmen, dann endete die Patientenakte plötzlich. Am Schluss stand der Eintrag Abortpsychose, datiert auf den 14. 6. 1992.
Nachdenklich nippte Katrin an ihrem Tee. Annabell Rustemovic hatte ihr ungeborenes Kind also verloren, vermutlich etwa zwei Monate, nachdem die Schwangerschaft festgestellt worden war, vielleicht auch etwas später. Seltsamerweise war der Tag der Fehlgeburt nicht in der Akte notiert worden. Katrin rechnete nach. Annabell musste ungefähr in der zwanzigsten Woche gewesen sein, als sie ihr Baby verloren hatte. Mein Gott. Zu dem Zeitpunkt war an einem ungeborenen Kind schon alles dran, es war ein fertiger Mensch, der nur noch wachsen musste. Eine Fehlgeburt in dem Stadium kam eher einer Totgeburt gleich. Kein Wunder, dass die junge Frau das psychisch nicht verkraftet hatte. Hatte sie sich deshalb das Leben genommen? Und Tanja? Was hatte sie damit zu tun? Gab sie Katrins Vater womöglich die Schuld dafür?
Katrin schüttelte den Kopf. Nein, in einer gynäkologischen Praxis war der Umgang mit Fehlgeburten nichts Ungewöhnliches. Ein Motiv für den Mord an ihrem Vater konnte das wohl kaum sein.
Dennoch war es sicherlich kein Zufall, dass Annabell Rustemovic Patientin ihres Vaters gewesen war. Katrin wollte Charlotte Schneidmann auf jeden Fall darauf hinweisen, wenn sie nachher vorbeikam.
Der nächste Ordner, der vor ihr lag, war noch dicker als die anderen.
»Kontoauszüge 1985 bis 2010«, las Katrin kopfschüttelnd. »Mein Gott, Papa, du warst wirklich ein Ordnungsfanatiker.«
Sie überlegte, ob sie den Ordner erst einmal zur Seite legen und sich weiter um die Patientenakten kümmern sollte, doch dann entschied sie sich, wenigstens einen Blick in die Kontoauszüge zu werfen.
In den Auszügen der achtziger Jahre fand sie neben den Praxiseinkünften hauptsächlich Barabhebungen verzeichnet. Am Anfang wunderte Katrin sich darüber, aber dann wurde ihr klar, dass bargeldloses Einkaufen damals noch nicht verbreitet war. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter immer am Anfang des Monats Geld in die Hand gedrückt bekam, Haushaltsgeld und Taschengeld, wie ihr Vater es so schön nannte.
Die Barabhebungen wurden Anfang der neunziger Jahre immer seltener. Klar, dachte Katrin. Da setzte sich dann die EC-Karte durch.
Plötzlich runzelte sie die Stirn. Obwohl es kaum noch Barabhebungen gab, waren so gut wie keine Zahlungen mit EC-Karte verbucht worden. Es schien so, als hätte ihre Mutter nirgendwo mit der EC-Karte eingekauft. Aber womit hatte sie dann bezahlt?
Katrin dachte nach. Wie lange hatte ihr Vater das Haushaltsgeld eigentlich bar mit nach Hause gebracht? Auf jeden Fall so lange, wie sie zu Hause gelebt hatte. Und wenn sie sich richtig erinnerte, hatte ihr Vater ihrer Mutter eigentlich immer Bargeld gegeben. Aber wenn es nicht von diesem Konto kam, woher kam das ganze Geld dann? Ob er ein zweites Konto hatte? Von dem niemand etwas wusste?
Katrin trank wieder einen Schluck Tee und ging die Kontoauszüge noch einmal genau durch.
Wenn es ein zweites Konto gab, musste ihr Vater irgendwelche Geldbeträge darauf eingezahlt
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