Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Wenn er schattengeboren war, würde sie ihm keine Chance geben, sich an dieser Tat zu ergötzen, und falls er keiner war, falls er tatsächlich Balthasar war – was unmöglich erschien – , dann konnte sie ihm nicht solchen Schmerz zufügen.
Wann, fragte sie sich, habe ich begonnen, daran zu zweifeln?
Da sie nicht im Dienst ihrer Prächtigkeiten stand, war sie nicht zu der Tür der Höherprivilegierten gegangen, sondern zu einer der Minderprivilegierten, wie sie von der Leibgarde bevorzugt wurde, weil sie ihnen schnellen Zugang zu den meisten Orten verschaffte, an denen Leibgardisten gebraucht wurden, einschließlich ihrer eigenen inneren Kasernen. Oben an der Treppe standen vier Leibgardisten im Schutz von Lichtern und beobachteten sie. Sie erkannte Hauptmann Lapaxo, den ranghöchsten überlebenden Hauptmann. Parhelion war auf seinem Posten bei Prinz Isidore gestorben. Beaudry hatte anscheinend Selbstmord begangen oder war ermordet worden, nachdem er ein Attentat auf Fejelis verübt hatte. Aber wenn man bedachte, dass Rupertis anscheinend seine Loyalität auf Prasav übertragen hatte und er nun vielleicht das Kommando über die Leibgarde führte, konnte Lapaxo auch zum Wachdienst degradiert worden sein. Die müden und argwöhnischen Augen des Hauptmanns bewegten sich zwischen Balthasar und Floria hin und her und nahmen genau die gleichen Widersprüchlichkeiten wahr, die auch sie gesehen hatte. »Mistress Weiße Hand«, begrüßte er sie in neutralem Tonfall.
»Ich brauche einen Magier, der diesen Mann verhört. Es ist dringend.«
Ihr Gefangener sagte: »Ein Magier aus den Blutlinien wird nicht in der Lage sein … «
»Würdest du freundlicherweise still sein«, unterbrach sie ihn, angespannt von den Zweifeln und der drohenden Katastrophe.
Lapaxo sagte: »Gehen Sie durch, und warten Sie drinnen.« Sie hörte, wie er einem der drei Männer einen Befehl gab, während die anderen beiden die Lichter herunternehmen, die Tür verschließen und ihnen dann folgen sollten. Lapaxo schloss sich ihnen an, flankierte Floria und bewachte ihren Gefangenen. Es war leichter, ihn nur als einen Gefangenen zu betrachten und zu glauben, dass er nicht das war, was er zu sein schien – was immer er auch sein mochte. Draußen in der Nacht dagegen …
Im Inneren des Gebäudes befand sich ein kurzes, breites Vestibül mit einem weiteren Gardistenposten an seinem Ende. Lapaxo signalisierte jenen, die es bewachten: Holt einen Magier. Eine Frau verschwand durch die Tür hinter dem Wachposten.
»Ich würde mich sehr gern hinsetzen«, bemerkte ihr Gefangener zurückhaltend.
»Es wird nicht lange dauern«, erwiderte Floria.
Und das tat es auch nicht. Die Leibgardistin kehrte nicht nur mit einer Magierin zurück, die das Abzeichen der Richterschaft des Palastes trug, sondern auch mit Tempe Silberzweig von den Justiziaren. Sie war nicht magiegeboren, aber mit Magie ausgestattet, um Lügen aufzuspüren, so wie Floria mit Magie ausgestattet war, um Gifte ausfindig zu machen. Allerdings besaß die Magierin nicht die Macht, die Floria sich erhofft hatte. Sie war lediglich dritten Ranges, aus den Blutlinien geboren und wahrscheinlich so jung, wie ihr ovales Gesicht es vermuten ließ. Ihre Robe, Hosen, Stirnband und Handschuhe waren gänzlich in Trauerrot gehalten. Ihr weizenfarbenes Haar hatte sie sorgfältig zu einer Vielzahl adretter Zöpfe geflochten, das ihr Eitelkeit, Selbstsicherheit und das Verständnis für die Notwendigkeit, den äußeren Schein zu wahren, testierte. Trotzdem hatte sie etwas von dem gehetzten, schwermütigen Ausdruck in den Augen, den so viele der jüngeren Magier zeigten, nachdem der Turm zerstört worden war. Während jedoch die meisten von ihnen lediglich benommen wirkten, schwelte Zorn in ihren Augen.
Floria ergriff das Wort. »Magistra, könnten Sie mir bitte sagen, was dieser Mann ist? Ich warne Sie, er könnte gefährlich sein.«
»Wie das?«, fragte Lapaxo, und sie begriff, dass nicht nur ihr Gefangener unter Verdacht stand.
»Er ist angeblich nachtgeboren. In der Tat behauptet er, ein enger Freund von mir zu sein. Wie wir alle wissen, ist das völlig unmöglich.«
»Trotzdem halten Sie es nicht für ganz ausgeschlossen«, bemerkte Tempe leise.
Floria lachte verbittert. »Meine Vorstellung von dem, was möglich ist und was nicht, wurde in letzter Zeit ziemlich auf die Probe gestellt.«
»Wo sind Sie heute Nacht gewesen?«, hakte Tempe weiter nach.
»Ich wollte jemanden davor warnen, dass die
Weitere Kostenlose Bücher