Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
Nachtgeborenen gleichgültig verhielt, würde es sie doch interessieren, dass er versucht hatte, jemanden mithilfe der Dunkelheit zu töten – auch wenn das, was er ermorden wollte, es durchaus verdient hatte.
Auf leichten Füßen bewegte sie sich mit gezücktem Revolver vorwärts.
Er saß noch zwischen den heruntergefallenen Lichtern auf dem Boden. Mit seiner bandagierten rechten Hand hielt er sich das linke Handgelenk, das wahrscheinlich die Wucht seines Sturzes abgefangen hatte. Sofort begriff sie, warum der Südländer ihn »Krüppel« genannt hatte. Sie hatte erst selten Blinde gesehen und noch nie einen, dessen Augen keine sichtbare Verletzungen zeigten, wodurch er erblindet war. Seine dunklen Augen wirkten makellos, mit einer braunen, gesunden Iris und einer glänzenden Hornhaut. Nur seine Pupillen waren verengt, und sein umherirrender Blick visierte sie nicht an.
So leise sie sich ihm auch näherte, er bemerkte sie dennoch. »Floria? Warst du das, die gerade gesprochen hat?«
Mit dem Revolver zielte sie auf die Mitte seiner Stirn.
»Bitte«, flüsterte er. »Von allen Menschen, nicht ausgerechnet du.«
Ihre Lichter flossen über sein Gesicht und erhellten die Blässe eines Kranken, der selten die Sonne erblickte. Er hatte das schmale, eindringliche Gesicht eines Gelehrten. Oder eines Fanatikers. Erblindete Lichtgeborene, die wussten, dass es ihnen bestimmt war, für den Rest ihrer Tage in die Dunkelheit zu blicken, begingen regelmäßig Selbstmord oder verloren den Verstand. Auf einer Seite seines Gesichtes konnte sie die roten, glänzenden Male frisch verheilter Wunden sehen – wie von einem Messer zugefügt –, die von seinem Ohr bis zu seinem Kinn reichten. Seine Kleidung war zu dick und zu lichtundurchlässig, um tragbar zu sein. Vor allem in diesem Licht wirkte die Farbe der Kleidung zu ungleichmäßig und normal. Sie erinnerte Floria an die kleine Schachtel, die Balthasar ihr geschenkt hatte – und die der Schattengeborene benutzt hatte, um den Talisman anzufertigen, der ihren Prinzen getötet hatte. An seinem Zeigefinger steckten einander ähnelnde silberne Ringe. Sie hatte ein Paar Ringe gesehen, die genauso aussahen wie diese. Balthasar hatte sie in die Durchreiche gelegt, um sie ihr zu zeigen. An die verstärkte Papierwand gelehnt hatte er bis zur Heiserkeit über seine Hochzeit und dem Wunder geredet, das nun seine Frau war.
Jetzt sagte er beinahe flüsternd: »Ich habe dir einen Brief geschrieben, als ich dreizehn war. Den ersten Liebesbrief, den ich je geschrieben habe. Ich hatte mir ein Treffen mit dir vorgestellt. Aber so hatte ich es mir nicht vorgestellt.«
Sie besaß den Brief noch immer. Nachdem sie ihn einmal gelesen hatte, war er all die Jahre ungeöffnet geblieben. Sie war damals achtzehn gewesen, Prinz Benedict gerade entthront worden, und kindliche Fantasien waren ihr sehr weit weg erschienen. »Nein«, sagte sie, »weil du nicht Balthasar bist.«
Er atmete flach ein. »Ich habe dir erzählt, was Tercelle Amberley gesagt hat, nämlich dass ihr Liebhaber am Tag zu ihr gekommen ist. Ich weiß nun, wer dieser Mann oder die Männer waren, die sie so missbraucht haben, wie sie sich durch den Tag bewegen konnten und was sie von den Amberleys wollten. Ich weiß, warum die Kinder mit Augenlicht geboren wurden.«
»Ein Nachtgeborener kann ebenso wenig im Licht leben wie ein Lichtgeborener in der Dunkelheit.«
»Ich bin der lebende Beweis für das Gegenteil. Das ist auch der Grund, warum ich mit deiner Prinzessin und den Magiern des Tempels sprechen muss .«
»Das kann ich nicht zulassen.«
»Floria«, sagte er, so vertraut. »Es ist deine Stimme. Warst du in der Gefolgschaft dabei, die mit dem Erzherzog gesprochen hat?«
»Nein, ich hatte etwas anderes zu erledigen.«
»Wie viel weißt du?«
»Ich weiß«, erwiderte sie, »dass ihre Prächtigkeiten nicht an Dinge wie Schattengeborene glauben. Ich aber tue es.«
Für einen Herzschlag glitt Schmerz über seine Züge. »Prinz Isidore«, sagte er mitfühlend.
Sie antwortete nicht, würde ihm nicht erlauben, dass er sich von ihrem Schmerz nährte, was immer er war.
Sie hörte, wie die Glocken ihren Takt wechselten und die Lichtgeborenen warnten, dass ihre Zeit, die die Nachtgeborenen ihnen gewährt hatten, ablief. Wenn sie ihn aufstehen ließ, wenn sie es riskierte, ihn am Leben zu lassen, würde sie es dann wagen, ihn in den Palast zu bringen, um ihn verhören und bestrafen zu lassen?
Wem diente sie? Sie diente Isidore, der
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