Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
ihn gefangen hielt.
Und noch etwas war verschwunden, als hätte es nie existiert: der Ruf.
Also war er dort, wo der Ruf ihn haben wollte. An keinem Ort, den er erkannte, sondern in einem Schlafzimmer, durchaus so groß wie die Baronensuite in Strumheller und mit Möbeln eingerichtet, deren Stil und Material ihm nur in Museen begegnet waren. An diesen Möbeln gab es keine Verbindungsstücke oder Nähte, weder im gewölbten Kopfbrett, den abgerundeten Kanten des Ankleidetischs noch an der bogenförmigen Vorderseite des Kleiderschranks. Wichtiger noch, dachte er, keins dieser Möbelstücke kann leicht bewegt werden. Dies war kein Reiselager.
Das Stechen der trockenen Luft in seiner Kehle hatte ihm bereits verraten, dass er sich nicht länger in den Grenzlanden befand.
Er warf die Decken zurück, schwang seine Beine über die Bettkante auf den festen Boden und stand auf. »Was jetzt?«
Hearne deutete mit den Daumen über seine Schulter. »Dort ist der Kleiderschrank. Unsere Herrin erwartet Sie.«
»Ihre Herrin?«
»Lysanders und meine«, erklang eine Frauenstimme vom anderen Ende des Bettes. Er machte einen großen Schritt zur Seite, weg von ihr, und durch seine Drehung befanden sie sich jetzt beide vor ihm.
Ohne offenkundige Verlegenheit angesichts seiner Nacktheit trat sie vor; ein liebreizendes, aber von einem widerwärtigen Makel behaftetes Geschöpf in einem durch und durch nachtgeborenen Kleid. Das Gewand bedeckte sie vom hohen Kragen bis zu den Manschetten an den Knöcheln mit mehreren Schichten aus Seide und Spitze, und wenn er sich an die weitschweifigen Vorträge seiner Schwester zum Thema Mode richtig erinnerte, war das Kleid seit mindestens einem Jahrzehnt aus der Mode. In der nachtgeborenen Manier eines Magiers trug sie Handschuhe. Ihr Gesicht war fein geformt, mit vollen Lippen, einer schmalen, geraden Nase, breiten Augenbrauen und ausgeprägten Wangenknochen. Ein Gesicht, wie er es bei gefeierten Schauspielerinnen und Mätressen von Fürsten gepeilt hatte, was oft ein und dasselbe war.
»Meine Dame«, sagte Ishmael und neigte den Kopf.
»Charmant«, erwiderte sie, »aber heuchlerisch, Ishmael di Studier.« Die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf auf die Seite gelegt, fügte sie hinzu: »Wenn man bedenkt, dass Sie zur Begrüßung direkt auf mich geschossen haben.«
Er biss die Zähne zusammen und versuchte angesichts der magischen Aura, die sie umgab, seine Fassung zu wahren. Allein von der bloßen Macht dieser Magie wäre ihm schwindelig geworden, selbst ohne die schattengeborene Aura.
»Ich würde mich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie mir das Leben gerettet haben«, sagte er schließlich, »wenn ich glaubte, mir gefiele, was Sie mit mir vorhaben.«
»Ah, nun, Ishmael. Es ist nicht an mir, Ihnen das zu erläutern.«
»Und wie lautet Ihr Name, meine Dame, da Sie so großzügig mit meinem umgehen?«
»Nennen Sie mich Ariadne.«
Sie wandte den Kopf Lysander Hearne zu. »Sander, wenn du so freundlich wärest?«
Lysander runzelte die Stirn, stieß sich aber von seinem Hocker ab und ging zu dem Schrank, um einen Abendanzug herauszuholen. Ein im Stil der nachtgeborenen Mode gehaltenes und förmliches Kleidungsstück, das Ishmael nie selbst gewählt hätte. »Ziehen Sie das an. Oder wir werden es für Sie tun.«
»Ich muss mich erleichtern«, sagte er, während er den Anzug aus Lysanders Hand entgegennahm. Dann kehrte er ihnen den Rücken zu, um mit einstudierter Gelassenheit ins Badezimmer zu gehen. Wie er erwartet hatte, gab es keinen Weg hinaus und keine Waffen, die bedrohlicher waren als ein Stück Seife und eine Rückenbürste. Er würde wie ein Vagabund mit einem Stoppelbart vor ihre Herrin treten müssen.
Mit dem Anzug kam er zurecht, wenn auch nicht annähernd so gut wie mit der Hilfe seines Kammerdieners. Er saß etwas eng an den Schultern, passte ansonsten aber einigermaßen. Ishmael versuchte sein Bestes mit dem Halstuch, ließ es schließlich liegen und kehrte zurück, um sich mustern zu lassen. Lysander Hearne reichte ihm Socken und Schuhe, und Ishmael setzte sich aufs Bett, um sie anzuziehen.
»Haben Sie Hunger?«, fragte sie, ganz die perfekte Gastgeberin.
Nicht bei dieser Magie um ihn herum. »Mir wäre es lieber, über mein Schicksal würde so schnell wie möglich entschieden, wenn Sie so freundlich sein wollen.«
Lysander bedachte ihn mit einem seltsamen Lächeln. »Oh, das ist sie.«
Mit Lysander an seiner Seite und Ariadne an Lysanders verließ Ishmael den Raum
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