Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren
mich, dachte Tam. Sein Herz und sein Lebenszweck waren hier, bei Beatrice und den Kindern, bei Fejelis, den Kunsthandwerkern, den Einwanderern, die auf Straßen wandelten, auf denen er ein Vierteljahrhundert zuvor gewandelt war. ›Was ist mit den Menschen, die von Licht abhängig sind?‹
›Wir werden dafür sorgen, dass sie genug davon haben‹, antwortete der Erzmagier. ›Alles andere wäre unmoralisch. Vielleicht könnten die Nachtgeborenen einen ihrer Grenzzüge in die Schattenlande entsenden, oder wir könnten selbst einen bauen. Es dürfte nicht weiter schwierig sein, ihn anzutreiben.‹
Er wollte sie auslachen oder ihnen Flüche entgegenschreien, aber beides erschien gleichermaßen sinnlos.
› Ich werde es nicht tun.‹
Er konnte das Gewicht von Valettas Magie und Willen spüren, als sie sich bereit machte, sich auf ihn zu stürzen. Andere standen hinter ihr. ›Sie haben keine Wahl‹, sagte der Erzmagier, und es lag keinerlei Sanftheit mehr in dieser uralten Stimme. ›Wir müssen tun, was zu tun ist, um zu überleben.‹
›Sie … ‹
›Scht.‹
›Wir werden für die Sicherheit Ihres Prinzen sorgen‹, sprach der Erzmagier in seinem ruhiggestellten Geist. ›Ich verspreche es. Er erinnert mich … an einen Mann, der mit großen Schritten über einen breiten, gefliesten Boden eilte und sich gestikulierend umdrehte, während jeder der langen Umrisse seines Körpers Vitalität verströmte. Er war ein Häuptling oder Prinz eines Zeitalters, an das sich nur noch die Hohen Meister erinnern.‹
Aber sie erinnern sich noch an ihn , dachte Tam, so, wie ich mich an Fejelis noch hundert Jahre nach seinem Tod erinnern werde.
›Normalerweise hätte er uns großen Ärger gemacht, aber er ist genau das, was sie brauchen. Wir werden ihn als unser Abschiedsgeschenk dalassen.‹
›Es ist Nacht draußen‹, brachte er als letzten verzweifelten Einwand hervor. ›Wenn ich in ihr Lager Licht mitnehme, und sie ihrer Abstammung nach Nachtgeborene sind, werden sie sterben. Und wenn ich kein Licht mitnehme, werde ich sterben.‹
›Nicht zwangsläufig.‹ Er spürte eine tiefe Befriedigung. ›Die Nachtgeborenen haben uns eine Möglichkeit gelassen.‹
Ishmael
»Sie können auch aufwachen«, ertönte eine Männerstimme. »Ich weiß, dass Sie nur so tun, als schliefen Sie. Ich würde es an Ihrer Stelle genauso machen.«
Die Stimme ähnelte der Balthasar Hearnes, klang aber schärfer, nachdrücklicher und eine Spur tiefer. Ohne sich zu bewegen, antwortete Ishmael: »Sie sind Lysander Hearne, nicht wahr?«
Er rollte sich auf den Laken zur Seite, stützte sich auf den Ellbogen und peilte den Sprecher. Der Mann saß auf einem Hocker weit außerhalb seiner Reichweite, einen Fuß auf die Querstange gestützt und mit einem Revolver auf den Knien. Seine Ähnlichkeit mit Balthasar Hearne war bemerkenswert, obwohl er eine kräftige statt schlanke Statur hatte und lässige Kleider trug, die ihm einen größeren Bewegungsspielraum ließen. Es haftete ihm nicht der Makel der Schattengeborenen an, sondern lediglich die Aura eines Mannes, der am Rande des Gesetzes ein hartes und wachsames Leben führte.
»Also haben Sie meinen Schwächling von Bruder kennengelernt«, bemerkte der Mann.
»Es war Ihr Schwächling von Bruder, der Ihre Pläne durcheinandergebracht hat.«
Lysander Hearne schnaubte. »Und von welchen Plänen genau sprechen Sie?«
Ishmael lehnte sich zurück und streckte seine freie Hand aus. »Von den Plänen, die durch die Geburt von Tercelle Amberleys Söhnen durcheinandergewirbelt wurden, denn die hat ein Schattengeborener gezeugt.«
Lysander Hearnes Gesicht verkrampfte sich – stark genug, dass es auffiel, aber nicht stark genug, um einen Gesichtsausdruck ablesen zu können. »Wie der Zufall es will«, sagte Lysander gelassen, »waren das nicht unsere Pläne.« Er hielt inne. »Sie sind sehr gefasst. Falls Sie sich nicht mehr daran erinnern, Sie waren vorhin tot wie ein Stück Hammelfleisch.«
Sollte das ein Versuch sein, ihn zu verwirren, verfehlte er sein Ziel vollkommen, denn Ishmael entdeckte gerade etwas erheblich Verwirrenderes. Vorsichtig richtete er seine Magie auf sich selbst, löste Lebenskraft aus seinen Knochen und seinem Gewebe … und fühlte nichts. Da war kein atemberaubender Schmerz, kein stockendes Herz und kein Gefühl, als ob sein Leben unkontrolliert in seine Magie abfloss. Er atmete tief ein, gleichermaßen vor Glück und Furcht erschüttert. Er konnte den Magier abschätzen, der
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