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Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren

Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren

Titel: Schattengeboren - Sinclair, A: Schattengeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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dieser Sekunde strömen Überlebende durch unser Tor. Laurel organisiert Streifzüge, um all jene herbeizuholen, die wir retten können, denn wir werden das Tor schließen müssen, bevor die schattengeborene Streitmacht uns erreicht. Als wir das letzte Mal von dem in Steinbrücken stationierten Trupp hörten, war er dabei, die Stadt zu evakuieren. Von Hartmanns Grabhügel oder den Dörfern jenseits haben wir nichts gehört. Wir haben Reiter zum Bahnknoten geschickt, um dort Alarm auszulösen, die Eisenbahner zu warnen und Telegramme nach Strumheller und in die inneren Grenzlande zu schicken. Strumheller ist unsere größte Hoffnung auf schnelle Verstärkung, wenn wir die Gleise halten und verhindern können, dass die Telegrafendrähte durchgeschnitten werden. Wenigstens ist es noch früh in der Nacht – uns bleiben noch Stunden, bevor wir uns überhaupt nicht mehr verteidigen können. Wenn Sie Ihr Glück auf der Straße zum Bahnhof versuchen wollen, dann werden wir Sie mit Reittieren und Vorräten versorgen. Aber ich hätte nichts gegen ein Dutzend guter Kämpfer einzuwenden.«
    Er sagte dies ohne ein Lächeln und ohne jeglichen Hinweis auf die Ironie, dass er seine eigenen Feinde rekrutierte; dafür war die Situation zu ernst. Mycenes Ächzen verriet weder Zustimmung noch Ablehnung, aber er beugte sich ein wenig nach vorne und bereitete sich auf das Gefecht vor. Ob bewusst oder unbewusst, hatte er sich diesem Kampf bereits verschrieben.
    An Balthasar gewandt sagte Stranhorne: »Sind Sie bereit, Linneas zu helfen? Wir haben Verwundete.« Er hatte Balthasars steife Bewegungen bemerkt. Balthasar nickte nur. »Gut.« An den einarmigen Mann gewandt fügte er hinzu: »Erich, nehmen Sie ihn mit und stellen Sie ihn vor.«
    Im Ballsaal war der Gestank der verängstigten, verletzten und kranken Menschen noch stärker, und es war noch lauter. Irgendwo schrie eine Frau wortlos, ein monotones Geräusch des Entsetzens, das von regelmäßigen, keuchenden Atemzügen durchbrochen wurde. Zu Balthasars Linken erklang die Stimme eines Kleinkindes: »Mama, Mama, Mama«, mit schrecklicher Beharrlichkeit, aber das Schlimmste war, dass es keine Antwort erhielt. Er hörte Erich, wie er jemanden anwies: »Wir müssen sie irgendwie beruhigen und säubern.«
    Erich schob Balthasar auf einen schmalen Flur in die ehemalige Ballsaalküche zu, die wegen ihrer Feuerstellen und Abflüsse in einen Operationssaal verwandelt worden war. Stranhornes Chirurg ging bereits zu Werke und grub die Hände in den Bauch eines Mannes. Er nahm kaum wahr, wie ihm Balthasar vorgestellt wurde: »Hier ist der Mann aus der Stadt, Linneas, der Ihnen helfen soll. Er heißt Balthasar Hearne.«
    Balthasar bemerkte, dass der Mann auf dem Tisch noch immer seine Stiefel trug, und erfasste die starre Miene des Chirurgen und die schrecklichen Sehnen, die von den Tüchern auf den Boden hingen. Wortlos streifte er seine Jacke ab, krempelte sich die Ärmel hoch und ging zum Waschbecken, um sich mit harter Karbolseife die Hände und Unterarme zu schrubben. Hinter sich hörte er, wie ein Instrument zu Boden fiel, ohne dass das hektische Geräusch folgte, wenn jemand versuchte, es noch im letzten Moment aufzufangen. Dieses winzige Geräusch war wie der letzte Schlag einer fernen Sonnenaufgangsglocke für jemanden, der zu weit von der nächsten Zuflucht entfernt war. Es klang anders, wenn man einen Körper anhob, nachdem das Leben erloschen war.
    Er ließ einige Herzschläge verstreichen, bevor er sich umdrehte. Linneas Straus war ein untersetzter Mann in den Fünfzigern. Sein Sonar glitt über Balthasar und nahm seine entblößten Arme mit einem Ächzen wohlwollend zur Kenntnis. »Sie wissen, was zu tun ist?«, fragte er.
    »Wenn ich es nicht weiß, werde ich fragen.«
    Balthasar verlor jedes Zeitgefühl. Geruch, Gehör und Erkennen – alles beschränkte sich darauf, nur das absolut Notwendigste wahrzunehmen. Er verabreichte Narkosen. Er half, einen schmächtigen Jungen festzuhalten, während Linneas seinen ruinierten Arm oberhalb des Ellbogens amputierte, und er wischte Erbrochenes vom Mund des Jungen, bevor er daran ersticken konnte. Er nähte mit schnellen Stichen den aufgerissenen Rücken einer jungen Frau zusammen, wohl wissend, dass sie trotz all seiner Fürsorge fürs Leben entstellt sein würde, falls sie sich keine tödliche Infektion zuzog. Schlimmer als die von Klauen zerfetzten Überreste vor ihm war das leise, monotone Schluchzen, das unverändert blieb, ganz gleich,

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