Schattengeschichten
anders. Mich erreichte jeden Tag dieselbe Postkarte, außer sonntags, nur das Datum des Poststempels rückte unerbittlich einen Tag vor.
Ich ignorierte sie, verbrannte sie, zerriss sie. Das Resultat war: Die Automatik der Post blieb beständig. Ich bekam und bekam und bekam und bekomme noch heute Post von Armin. Immer dasselbe: Er vermisse unsere Gespräche und fühlt sich durch ,Wonder Boys’ an mich erinnert. Ob er tot ist?
Meine Freunde behaupten, Armin sei irre. Dem stimme ich zu. Nur wie er den Sturz überlebt haben will, das begreife ich nicht. Und warum er sich mich als Opfer seines Spiels ausgesucht hat. Doch Antworten sind nicht immer das Wichtigste. Hauptsache ich kenne die Frage. Und die lautet: Wie lange wird dieses Monster meines Lebens noch verweilen?
Auf einer Hochzeit
Marius hatte sich auf einen Stuhl am Rand der Tanzfläche gesetzt und beobachtete das Brautpaar, wie es seinen ersten Tanz vollführte, umrundet von allen Anwesenden, stehend, applaudierend, jubelnd. Marius hielt ein Glas Whiskey in seiner rechten Hand, in seiner linken brannte eine Zigarette, dessen lange Asche drohte hinunterzufallen. Er betrachtete eigentlich nicht das Brautpaar, sondern die Braut, Erika, diese grazile Gestalt mit ihren roten Haaren, den quirligen Sommersprossen und der Haut aus samtigem Pergament. Sie lächelte ihren frisch Angetrauten, Felix, ein erfolgreicher Börsenspekulant, mit einem ungreifbaren Vertrauen an, dass Marius übel wurde.
Erika küsste Felix nach dem Tanz sehr lange, allerdings nicht auf Zunge, weil es sich nicht ziemte vor den anderen Gästen, dachte Marius. Niemand nahm Notiz von dem Mann am Rand, dem trauernden, hoffnungslos verliebten Idioten, der niemals eine Chance bei der Braut gehabt hatte, auch nicht, als sie betrunken neben ihm auf einer Couch eingeschlafen war. Er kannte Erika seit ihrer gemeinsamen Schulzeit, war sich aber nicht sicher, wie lange Felix schon in seinem oder ihrem Leben war. Dieser gutaussehende Wichser, dachte Marius. Gutaussehend, erfolgreich und verheiratet mit einer wunderschönen Frau. Drei Attribute, derer Marius niemals habhaft werden würde, da war er sich sicher. So wie sein Leben bisher verlaufen war.
„Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass Erika eigentlich Sie heiraten wollte?“
Eine klare, dunkle Männerstimme sprach von hinten zu Marius. Er drehte sich um und erkannte den Freund von Erikas Cousine, Harald, ein stämmiger, kleiner Mann mit einem stark gestutzten Schnauzer.
„Was sagen Sie?“ fragte Marius, weil er glaubte sich verhört zu haben.
„Erika“, erwiderte Harald und zeigte auf die Tanzfläche, wo mittlerweile jeder zu tanzen schien. Marius fiel auf, dass auch er ein Glas mit Whiskey in der Hand hielt.
„Erika wollte eigentlich Sie heiraten, Marius. Aber das erinnern Sie nicht mehr.“
„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.“
Harald setzte sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Das Vertrauliche fühlte sich gespielt an, nicht wirklich.
„Felix hat Ihr Schicksal geklaut, Marius, und sich das Geld und die Frau geschnappt.“
„Was reden Sie da für einen Unsinn?“ Marius erhob sich und ging. Harald folgte ihm. Keiner der Tanzenden blickte zu ihnen. Die wenigen, die an ihren Tischen sitzen geblieben waren, beschäftigten sich mit Fotografieren und Lachen.
„Felix hat das Schicksal mit Ihnen getauscht, er hat dafür bezahlt, eine hohe Summe.“
Marius ging dem Mann zwei Schritte voraus und hörte trotz der Musik jedes Wort. Er wollte nicht stehenbleiben. Das war absurd. Wieso erlöste ihn nicht Erikas Cousine und entführte Harald auf die Tanzfläche?
„Wollen Sie Ihr Schicksal nicht zurück haben?“
Marius blieb stehen, drehte sich um. Harald lächelte.
„Jetzt hören Sie mal, lassen Sie mich mit diesem Scheiß in Ruhe, ja? Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden. Schicksalstausch. Klingt nach einem billigen Hollywood-Film.“
„Ich kann Ihnen dabei helfen.“
„Sicher können Sie das, Harald. Das glaube ich Ihnen auf’s Wort.“
Harald ließ sich durch den sarkastischen Unterton nicht beirren. Stattdessen nahm er es als Zeichen, dass er Marius langsam überzeugte, weil dieser stehen geblieben war um mit ihm zu reden.
„Erinnern Sie sich, seit wann Sie Felix kennen?“
„Was hat das damit zu tun?“
„Erinnern Sie sich?“
Das war Marius schon vorhin aufgefallen. „Nein“, antwortete er.
„Und wissen Sie noch, wo Sie ihn kennengelernt haben? Oder wann Sie von ihm das erste
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