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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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dachte ich erschrocken. Ich schüttelte den Kopf und zeigte zur Dachgaube, das einzige Fenster, das sich öffnen ließ. Kaum war die Gaube auf, hielt sie mir ihre Hände hin. Ich stieg aufs Klavier und griff zu. Wie eine Ringelnatter schlängelte sie sich durch die winzige Öffnung, und ich hielt sie fest und zog sie herein.
    „Na endlich“, sagte sie. „Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr aufwachen!“
    Die Gardine wehte, wir standen uns gegenüber, ich und das Mädchen, dem ich vor zwei Jahren in Halbreich begegnet war. Es wurde kühl im Zimmer.
    „Ich friere“, sagte sie.
    Ich starrte sie an. Sie trug keine Jacke, keine Schuhe. Das Kleid war dasselbe wie damals, nur bis zur Unkenntlichkeit zerschlissen. Sie war so schmutzig.
    „Woher weißt du, wo …“ Meine Stimme war mir fremd. Vielleicht weil ich sie in letzter Zeit kaum benutzt hatte. Oder es lag an dem Verband, der meine Ohren bedeckte. Sie klang, als hätte sich etwas an den Stimmbändern abgelagert. „… wo ich wohne?“
    Das Mädchen schwankte und hielt sich am Schrank fest. Wer weiß, wie lange sie schon da draußen auf dem Baum gehockt hat, dachte ich. Endlich kam Bewegung in mich. Ich ging an ihr vorbei zum Klavier, stieg darauf und schloss die Glaube wieder.
    Als ich mich umdrehte, saß sie auf dem Bett. Sie war nackt und schob ihr Kleid mit den Füßen zu einem Bündel zusammen. Das muss gewaschen werden, dachte ich automatisch. Noch besser wäre, es endlich wegzuwerfen. Es war ein Totenkleid.
    Ich wusste es von Papas Zeichnungen. In dem Buch von Poe gab es eins in der Geschichte Berenice . Berenices Totenkleid war weiß, voller Spitze und wunderschön, und es sah genauso aus wie das, was dort am Boden lag.
    Vielleicht wusste sie nicht einmal, dass es ein Totenkleid war. Ich selbst hätte es ohne Papas Zeichnung auch nicht gewusst. Vielleicht hatte sie es in einem Laden gestohlen und gedacht, es wäre ein Sommerkleid. Ich fröstelte. Sie wickelte die Decke um sich. Sie hatte den Finger auf dem Knopf der Nachttischlampe. „Willst du da anwachsen?“, fragte sie. Sie knipste das Licht aus und an und lachte. Ein kleines, lebhaftes Lachen, das sprang im Zimmer umher. Ich zögerte noch. Dann knipste sie das Licht wieder aus, und ich schlüpfte zu ihr unter die Decke. Sie war warm und sie roch nach Wald und Wasser, als sie die Arme um mich schlang und wir einschliefen.
    - - -
    Aber als ich morgens die Augen aufschlug und das Mädchen in meinem Bett sah, erschrak ich. Sie schlief, und ich schrieb einen Zettel, den ich gut sichtbar auf den Boden legte: „Bitte ganz leise sein!“ Dann schob ich die Tür hinter mir fest zu, drehte den Schlüssel im Schloss und ging im Bademantel hinunter in die Küche. Zum Frühstück.
    Sie könnte einfach verschwinden, dachte ich am Tisch, während ich Brennnesseltee trank. Sie war viel kleiner und dünner als ich, und sie hatte kein Problem damit gehabt, durch die Gaube zu kommen. Sie könnte auf demselben Weg wieder verschwinden. Wenn ich hochkäme, wäre alles wie vorher.
    Ma nähte etwas an der Manschette von Carstens Hemd. Der hatte die Zeitung vor sich und hielt den Arm still auf dem Tisch. Ich fand es schrecklich, dass Ma Carstens Manschette nähte. Ina stand mit dem Rücken zu uns und schnitt Fleisch. Keiner sprach. Ich lauschte in Richtung Küchendecke. Ich lauschte auf Geräusche von meinem Zimmer oben. Auf nackte Füße über den Bohlen. Auf ein Scharren des Stuhls, ein Kichern. Nichts.
    Die Tatsache, dass jemand, der nicht ich war, sich in meinem Zimmer aufhielt, vielleicht gerade auf meinem Stuhl saß und in meinen Büchern blätterte, hatte etwas schwindelerregend Verwirrendes. So als wäre ich an zwei Orten gleichzeitig.
    „Können wir nicht das Radio anmachen, es ist so still, Ma.“
    Ina drehte sich um, das Messer in der Hand. „Musik beim Essen ist nicht gesund. Genau wie Lesen.“
    Ich hab nicht dich gemeint, dachte ich und wischte über die Tischplatte, dabei kam mir der Ärmel meines Bademantels vor Augen. Ein verblichenes Blau, an den Ellenbogen ausgebeult. Der Stoff war zu dünn. Ich fror.
    Es war still, aber ich hörte noch ihre Sätze. Ich hörte sie deutlich, sie dröhnten in meinem Kopf.
    ‚Sie braucht eine feste Hand. Du bist zu alt, Marie. Sie tanzt allen auf dem Kopf herum. Ich finde, du solltest darüber nachdenken.‘
    ‚Es gibt eine Abmachung, Ina. Erinnere dich. Du bist einfach abgehauen damals. Mila war dir egal. Wir alle waren dir egal. Wir haben nicht mal gewusst,

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