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Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)

Titel: Schattengesicht (quer criminal) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Wagner
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ob du lebst!‘
    ‚Das war vor zwölf Jahren! Es war eine andere Zeit damals! Jetzt ist eine ganz andere Situation.‘
    ‚Es ist ein Wunder, dass sie mir Mila gegeben haben, Ina! Weißt du das überhaupt? Sie war nicht mal ganz ein Jahr. Sie hätten sie wegnehmen und ins Heim stecken können. Wir hätten sie nie wieder gesehen!‘
    ‚Ich konnte nicht hier bleiben, Marie. Du weißt genau, dass ich verreckt wäre. Dass sie fünf Jahre später die Grenzen aufmachen, hab ich nicht wissen können. Das hat keiner gewusst!‘
    Ich hatte den Schlüssel in der Hand, beruhigend groß. Ma legte das Nähzeug weg, kam zu mir, löste den verrutschten Verband und legte ihn wieder an.
    ‚Sie klettert auf Bäume und bricht sich das Bein, sie ertrinkt fast im Weiher. Du hast sie nicht erzogen , Marie. Du hast sie nur aufwachsen lassen. Sie ist wie ein kleiner Junge. Aber in ihrem Alter sollte sie sich langsam für andere Sachen interessieren. Du musst das lenken! Sie sollte was am Computer lernen. Und wenn sie schon so viel liest, dann gib ihr englische Bücher. Wie soll sie denn später Chancen auf Arbeit haben, vor allem hier im Osten, wenn du sie aufwachsen lässt wie Heidi?‘
    ‚Sie ist ein Kind, Ina.‘
    ‚Eben nicht! Sie ist fast dreizehn!‘
    In der Küche war es warm und trocken. Ich zitterte. Meine Zähne schlugen aufeinander. Ma sagte: „Geh wieder ins Bett, Mila.“
    Es roch nach Zwiebeln. Draußen bellten Hunde. Der Vorhang bebte, und ein Sonnenfleck stand unruhig neben dem Ofen. Inas Haare. Sie hatten die bleierne Farbe des Weihers.
    „Ich bring dir nachher Hustensaft hoch“, sagte Mutter.
    „Nein!“ Als ich merkte, dass ich geschrien hatte, senkte ich sofort die Stimme. „Ich meine … ähm … gib mir jetzt den Saft. Du weckst mich auf, wenn du später kommst.“
    Und in meinem Kopf hämmerten die Sätze, die sie gesprochen hatten, immer weiter. Diese Sätze, als sie dachten, ich schlief.
    ‚Gib sie mir zurück, Marie, du musst nur zustimmen.‘
    ‚Ich kann nicht.‘
    ‚Es geht nicht um dich, sondern um Milana! Sie braucht ein stabiles Zuhause! Liebst du sie nicht?‘
    Da war der Rücken von Ina, die weiter Fleisch schnitt. Ob die Kälte der Hand durch den Griff des Messers bis in die Klinge drang? Ob das Fleisch an den Schnittstellen kalt wurde?
    ‚Du musst nur zustimmen.‘
    Ich stürzte den Hustensaft hinunter und sprang vom Stuhl. Ich lief die Treppe zu meinem Zimmer hoch. Als ich drinnen war, drehte ich den Schlüssel herum und stellte mich mit dem Rücken gegen die Tür. Mein Zeigefinger schnellte vor. „Du musst jetzt gehen!“
    „Feigling …“
    „Irgendwer wird dich schließlich suchen!“
    „Mich sucht niemand.“
    Sie stand am Glasschrank und versuchte ungeschickt, sich einen Zopf zu flechten. Sie hatte eine meiner Jeanshosen an und mein knallblaues Supergirl-Shirt.
    „Wovor hast du eigentlich Angst?“, fragte sie.
    „Ich hab keine Angst!“
    „Na dann.“
    Sie lächelte. Ihr Gesicht war im Spiegelschrank so deutlich, dass es ausgehöhlt wirkte. Ich sah mich selbst daneben und kam mir unscharf vor, hastig dahingewischte Züge. Sie lächelte mich einen Augenblick lang aus einer Leere heraus an, die größer war als alles, was ich je gesehen hatte.
    „Du bist abgehauen“, sagte ich kalt.
    „Wollen wir denn wirklich keine Freunde sein?“ Und dann streckte sie die Hand aus und berührte den Verband um meinen Kopf. Ich dachte an den Ast, der daraufgeknallt war. Von der Seite. Ich dachte an Jamie, an Karina, und mir war, als müsste ich losheulen.
    „Warum kommst du überhaupt zu mir?“, rief ich wütend. „Vielleicht brauch ich ja keine Freunde!“
    „Das glaub ich nicht“, sagte sie.
    Plötzlich wurde mir warm. Meine Adern tauten seit Tagen der Starre endlich auf, und schmerzhaft heißes Blut rauschte hindurch. Ich sah in ihre Augen und musste dann den Blick senken, als wäre da etwas, das zu hell war, um es direkt anzusehen.
    Ich spürte, wie die Spannung der letzten Jahre sich dehnte, sich bis zum Äußersten in meinem Kopf aufblähte, bis ich die Hände an die Schläfen riss, wo der Verband saß.
    „Meine Mutter ist gar nicht meine Mutter“, flüsterte ich. „Ich bin Inas Tochter. Ich gehöre ihr.“ Plötzlich war ich müde, hundemüde.
    „Das stimmt nicht“, sagte das Mädchen. „So lange du etwas hast, von dem nur du weißt, gehörst du ihnen nicht!“
    „Und was soll das sein?“, fragte ich.
    „Nicht was“, sagte sie und grinste. „Sondern wer.“ Sie machte

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