Schattengesicht (quer criminal) (German Edition)
sich vor dem Wald ab. Weiß und fremd und leer wie eine Kirche.
Vielleicht hätte ich auf die Vögel achten sollen. Als noch Vögel zu sehen waren. Wie tief sie geflogen waren. Knapp über der Erde, ihre Bäuche mussten schon die Grashalme gestreift haben. Vielleicht hätte ich auch an das Murmeln der Bauern vor dem Anker denken sollen, an ihre stummen Blicke in den Himmel – diese unausgesprochene Kenntnis eines kommenden Unheils.
Denn ohne Vorwarnung stand plötzlich die Landschaft still. Ich hielt an und sah mich um. Vorsichtig. Nichts bewegte sich. Nicht die Bäume, nicht das Schilf am Ufer. Sogar die Wiese um mich herum war wie eingefroren. Alles schien in Erwartung zu verharren. Dann fiel der Ton aus. Keine Grillen mehr, keine Frösche. Kein Vogel.
Ich stand und schaute, und ganz langsam wurde die Wiese grau, als zöge jemand die Farbe heraus, dann wurde sie wieder grün … grau … grün, und endlich sah ich nach oben, zum Himmel.
In die Wolken, die mit einer solchen Heftigkeit über die Sonne gerissen wurden, dass sie dabei zerfetzten. Pechschwarze Wolken, doch die Ränder waren grell. Als die Baumkronen sich zu bewegen begannen, war alles Lebendige schon geflüchtet. Alles, außer mir.
Etwas Gewaltiges schoss von oben nach unten. Ein Rauschen setzte ein, schwoll an, jagte die Stämme entlang nach unten, erreichte die Büsche, das Schilf, die Wiese … mich. Als die ersten Äste fielen, rannte ich los.
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Ich lag in Halbreich, die Arme über dem Kopf, der Sturm hatte die Weidenzweige in Peitschen verwandelt. Der Weiher versuchte nach mir zu greifen, er hatte alle Scheinheiligkeit abgelegt, schwarz und schmierig leckte er das Ufer hoch. Meine vergrabenen Schätze kamen wieder zutage. Meine unterirdische Schutzschicht. Und alles rutschte ins Wasser, und das Wasser lebte , es schnappte, zermalmte und schluckte.
Und plötzlich. Plötzlich zwischen dem Chaos. Zwischen der unnatürlichen Dunkelheit. Zwischen dem Keuchen der Landschaft. Hörte ich etwas.
Jemand rief.
Ich hob den Kopf und schaute durch die Zweige über den Weiher. Als ein Blitz den Himmel zerriss.
Und da sah ich sie.
Sie waren auf der anderen Seite, und sie schienen zu brennen. Sie bewegten sich nicht. Sie standen da wie in Erz gegossen. Sie starrten in den Weiher. Und riefen nach mir. Sie hielten sich fest umklammert, und jeder Ruf schien sie noch weiter ineinander zu treiben. Während um sie herum die Äste von den Bäumen krachten. Ich musste sie retten! Ich sprang aus Halbreich heraus in den Sturm, ich winkte und schrie: „Hier! Ich bin hiiier !“
Da drehten sie sich um. Langsam. Mitten in der Katastrophe. Granit, Grabmale oder Giganten, dachte ich fasziniert, und als sie sich in Bewegung setzten und um den Weiher herumkamen, wich ich zurück, denn mir fiel ein, dass Halbreich mein letztes Geheimnis war, das Ina und Carsten noch nicht kannten.
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Sie schoben die Weidenzweige auseinander.
Irgendwas stimmte nicht. Sie waren größer als sonst. Das schäumende Wasser im Hintergrund hob das Weiß in ihren Augen, das Weiß der Zähne hervor. Wenn sie Angst gehabt hatten, so sah man es ihnen nicht mehr an. Sie wirkten so frisch. Als wäre dies ihre natürliche Heimat. Als würde die Umgebung, in der ich sie sonst kannte, sie grau machen, damit sie nicht auffielen. Das war ein seltsamer Gedanke … und er war noch nicht zu Ende … da war noch irgendwas … aber mein Kopf … er tat plötzlich so weh.
„Milana“, sagte sie mit der vertrauten, schrillen Stimme. „Wie oft, wie oft hab ich dir gesagt …“
„Sie macht das mit Absicht“, unterbrach er.
Ich verstand noch nicht. Ich hatte sie gerettet. Ich schaute ihnen ins Gesicht. Sie lächelten ein enges, geheimes, unbekanntes Lächeln. Ich lächelte vorsichtig zurück.
Ich erinnere mich an die Schatten, die sie geworfen hatten, als sie eintraten. Der Blitz stand in ihren Rücken, und ihre Schatten waren ungewöhnlich lang, die Arme schienen in schmalen Schaufeln auszulaufen, die Finger in Klingen. Ich wollte etwas sagen, als plötzlich eine Wucht meine Stirn traf und explodierte, und noch während ich fiel, erlosch der Blitz und mit ihm die Schatten.
- - -
Als ich die Augen aufschlug, ging mein Blick als Erstes zum Fenster. Es war wieder fest verschraubt. Draußen stürmte es immer noch.
Mein Gesicht war heiß und trocken. Mein Kiefer tat weh, als hätte ich stundenlang auf einen harten Gegenstand gebissen. Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund, und mein Kopf
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