Schattengold
Herr Cortes, angesichts der Tatsache, dass es vieles gibt, was sie nicht wusste und ihr Geist nicht unbedingt als ausgeprägt zu bezeichnen war.
Immerhin wagte eines der wenigen Kommissionsmitglieder, die nicht zur Duzgemeinschaft zählten, einzuwenden: »Er hat aber recht. Es spricht doch nichts dagegen, dass jemand an die alten Beschlüsse erinnert, die auch heute noch gültig sind. Oder etwa nicht mehr?«
Der Oppositionsführer witterte Gefahr, sprang auf und setzte zum entscheidenden Gegenschlag an: »Wir lassen uns nichts von einem Oberlehrer vorschreiben. Da kommen bei mir Emotionen hoch!«
Wahrscheinlich hatte er in seiner Schulzeit schlechte Erfahrungen mit seinen Paukern gemacht.
»Antrag zur Geschäftsordnung: Schluss der Debatte.« Er stieß in seiner Aufregung gegen eines der von der Decke hängenden Schiffsmodelle, was einen dumpfen, hohlen Klang auslöste. »Beschlussantrag: Die Kommission stellt fest, dass alles beim Alten bleiben soll. Das Umstellen der Uhren auf Sommer- und Winterzeit wird aus fachlichen Gesichtspunkten abgelehnt. Ich bitte, diesen Beschlussantrag im Protokoll festzuhalten und ihn dem Ratsvorsteher zu unterbreiten.«
Unmittelbar nach der Abstimmung, die wie erwartet zugunsten des Status quo ausfiel, verschwand er grußlos. Wieder einmal hatte er Lübeck vor den Umstürzlern gerettet. Die Stadt konnte ruhig weiterschlafen.
Es bedeutete einen trügerischen Winterschlaf, denn schon der kleinste Vorfall konnte das innerlich morsche Kartenhaus zusammenfallen lassen. Herr Cortes musste an die Stammtischsitzung mit den Kollegen im ›Buthmanns‹ denken, bei der jemand vorschlug, Lübeck in ›Chronaborg‹ umzubenennen – die Stadt, in der die Zeit stehen geblieben ist.
Die Kultursonderkommission hatte eine Entscheidung getroffen, die den Schatten der Zeit, der sich schon seit Längerem über Lübeck gelegt hatte, vertiefte.
Am nächsten Morgen fand man auf dem Marktplatz ein paar Mosaiksteine. Sie waren oben aus der hohen Scheinwand des Rathauses herausgebrochen.
*
Wenige Tage später kam auch Frau Cortes abgearbeitet und deprimiert nach Hause. Das Wetter blieb miserabel. Dünner Regen lag in der Luft.
Sie fühlte sich um Jahre gealtert. Früher ähnelte sie einer Weide: Sie konnte sich dem Druck von außen beugen, gerade so viel als nötig war, um nicht zu zerbrechen. Wenn der Sturm jedoch vorüber war, stand sie wieder stolz, aufrecht und würdevoll im Leben. Sie liebte ihren Beruf, aber die ständigen Anfechtungen der letzten Zeit machten ihr arg zu schaffen.
Wieder hatte sie eine dieser fruchtlosen Konferenzen an ihrer Schule über sich ergehen lassen müssen. Die neue Rektorin, eine begnadete Bürokratin, hatte ein weiteres Mal dem Druck der Schulbehörde nachgegeben und in ihrer Gutsherrenart das Kollegium gegen seinen Willen und seine Erfahrung dazu verdonnert, die neue Oberstufenordnung zu akzeptieren. Unter dem Vorwand, für eine bessere Allgemeinbildung zu sorgen, wurden die Wahlmöglichkeiten der Schüler drastisch reduziert. Das System der Leistungsorientierung bröckelte.
Für Frau Cortes als Musiklehrerin bedeutete das, dass man ihr Fach ins Abseits drängte. Jetzt war es vorbei damit, zukünftige Musikhochschüler zu fördern. Musik war im Lande, und da machte Lübeck keine Ausnahme, eben nur Nebensache. Wozu auch, reichte es doch, dass die Jugendlichen lesen, schreiben und rechnen lernten. Mehr brauchte der Mensch nicht, wenn er später einmal wirtschaftlich verwertet werden sollte.
Ästhetische Bildung wurde zur Privatsache, zum Luxusgut der wohlhabenden höheren Töchter, deren Eltern sich ohnehin einen Hauslehrer oder den Besuch eines Privatinternats leisten konnten. Jedenfalls sparte das dem Land viel Geld, das man für Prestigeobjekte wie den Bau einer überdimensionalen, 20 Kilometer langen Brücke über den Fehmarnbelt dringender benötigte.
Frau Cortes schlug die schlechte Laune auf den Magen. Zu allem Überfluss fand sie beim Betreten ihrer Wohnung ein Blatt Papier an der Haustür: ›Wenn Sie weiterhin so schulmeisterlich das Leben unserer Stadt stören, werden wir öffentlich verbreiten, wie es um die Herkunft Ihrer Tochter bestellt ist. Dann können Sie den Hut nehmen und sich in der Provinz bewerben.‹
Das Ehepaar setzte sich zum Abendbrot zusammen. Frau Cortes holte eine Flasche Rotwein aus dem Keller. Sie brauchte jetzt einen guten Schluck. Aina hatte noch Proben in der Musikhochschule und würde erst spät zurückkommen.
»Wir
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