Schattengold
müssen es ihr sagen!«
Frau Cortes schmeckte ihr Salamibrot nicht. Sie würgte es. Sie konnte ihre Tränen kaum unterdrücken. »Wir hätten unsere Entscheidung nicht so lange hinauszögern sollen.«
Ihr Mann versuchte, sie zu trösten: »Du weißt, dass wir es richtig fanden, Aina so lange wie möglich eine ruhige und sorgenlose Jugend zu gewähren. Als Kind hätte sie es nicht verstanden, dass wir nicht ihre wirklichen Eltern sind. Wir haben ihr alles gegeben, was wir konnten, und sie liebt uns deswegen, davon bin ich überzeugt.«
»Schon, wir hätten es ihr aber viel früher sagen müssen, zu ihrer Konfirmation vielleicht.«
»Du weißt, ich hatte immer Angst, sie eines Tages zu verlieren.«
»Aber das werden wir ohnehin. Alle Eltern werden eines Tages ihr Kind verlieren. Kinder wachsen heran und wollen, nein, müssen ihren eigenen Weg gehen. Ich spüre, dass Aina längst so weit ist. Sie hat jemanden gefunden, der in ihrem Leben wichtiger ist als die Eltern. Das höre ich an der Art, wie sie jetzt singt.«
Herr Cortes schenkte sich ein Glas Rotwein ein und spielte nachdenklich mit seiner Serviette. Die beiden saßen lange schweigend am Tisch beisammen.
Die Zeit verstrich. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die Kerzen brannten herunter. Im Kamin knisterte das letzte Stück Brennholz. Die Serviette war inzwischen völlig zerknittert.
Gegen Mitternacht kam Aina. Sie hatte nach dem Unterricht noch stundenlang mit Raik musiziert, Lieder für Mezzosopran und Cello von dem argentinischen Komponisten Erik Oña.
Aina setzte sich an den Tisch und begann, von den Speiseresten zu naschen. Sie spürte sofort, dass eine traurige Stimmung im Raum lag.
»Was ist los mit euch beiden?«
Frau Cortes zeigte ihr den Zettel. Es dauerte eine Weile, bis Aina begriff. Dann sprang sie auf und umarmte ihre Mutter von hinten.
»Aber das ahnte ich doch schon lange!«
Das Ehepaar starrte sie fassungslos an.
»Vor Jahren fielen mir ein paar Fotos in die Hand. Ihr hattet eine Reise in ferne Länder gemacht. – Da vermutete ich es sofort. Ich traute mich nur nicht, euch zu fragen, weil ich Angst hatte, ihr würdet mich dann weniger lieb haben. Jetzt bin ich froh, dass wir endlich offen darüber sprechen können.«
Aina holte sich aus der Küche ebenfalls ein Rotweinglas und schenkte sich ein. Herr Cortes rückte verlegen an seinem Stuhl und zerquetschte erneut die Serviette.
»Ja, es stimmt. Wir waren damals vom Goethe-Zentrum in Antananarivo, der Hauptstadt von Madagaskar, eingeladen. Mama, ich meine, deine Adoptiv…«
»Wir können ruhig bei Mama und Papa bleiben!« Aina stieß mit ihrem Weinglas die der beiden anderen an. Jetzt musste auch Herr Cortes mit den Tränen kämpfen. Er benutzte dazu seine unansehnlich gewordene Serviette.
»Ja, also, wie gesagt. Ich sollte beim Aufbau einer Physiksammlung für die Schulen helfen und Mama wollte das Musikleben des Landes studieren.«
»Madagaskar! Wie aufregend. Das klingt ja richtig weit. – Da muss ich erst einmal nachdenken.«
Sie wusste nur ungefähr, wo Madagaskar liegt. Schnell sprang sie auf und holte den großen Globus, der auf dem Bücherregal stand.
»Madagaskar … Hier: Südlich des Äquators, an der Ostküste von Afrika. Mosambik. Und hier, etwas nördlicher: Sansibar. Die Komoren. – Herrliche Namen, so richtig zum Träumen!«
»Sicher, aber für die Bevölkerung dort war die Lage schon oft alles andere als zum Träumen. Sie hatte lange Zeit unter der Kolonialherrschaft zu leiden, und es war durchaus verständlich, dass man uns Europäern bisweilen reserviert gegenüberstand. – Dennoch erlebten wir eine wunderbare Zeit. Mama integrierte sich als Musikerin sofort. Ich hatte alle Hände voll zu tun mit meinen Geräten und stieß auf neugierige Gesichter.«
Er schenkte sich erneut ein Glas Rotwein ein und blickte gedankenversunken durch die farbige Flüssigkeit, in der sich das Kaminfeuer mattgolden spiegelte.
»Eines Tages machten wir einen Ausflug in ein Dorf namens Mahavelona. Das heißt auf Deutsch ›Dort, wo das Leben wieder erwacht‹. Es liegt auf einer Nebeninsel im Osten Madagaskars und war damals schon ein beliebter Badeort. Eine wunderschöne Gegend mit üppiger Vegetation, endlosen Stränden und weißen Dünen, die den Ort vor den Wellen des blauen Ozeans schützen.
Das Paradies.
Doch genau an dem Tag herrschte große Aufregung im Dorf. Einheimische hatten ein gestrandetes Boot entdeckt, in dem ein jämmerlich weinendes Menschenbündel lag.
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