Schattengold
Irgendwer musste es ausgesetzt haben, und es erschien ihnen als Wunder, dass es überhaupt noch atmete.
Ein Durchreisender brachte die Nachricht, dass in den nördlichen Bergen Madagaskars kürzlich ein Mann mit seiner hochschwangeren Frau von den Bewohnern vertrieben worden sei. Das Kind soll nicht von ihm gezeugt worden sein. Der Mann hatte sich als Mpisikidy, als Heilkundiger, ausgegeben.
So ein heilkundiger Zauberer sitzt normalerweise in einem dunklen Raum vor einem Holzkoffer, der mit goldenen Ketten versehen ist. Seine Wahrsagung geht einher mit der Ausbreitung von roten, weißen und schwarzen Samenkörnern. Aus deren Lage kann er dann sein Urteil ablesen.
Die Leute bemerkten jedoch schnell, dass dieser Mpisikidy ein Lügner, ein Scharlatan war, weil er sein Handwerk nicht verstand und den Ratsuchenden seinen Glauben aufdrängen wollte. Er gehörte zu den alten Hütern des Aberglaubens, die sich auserwählt fühlten, für die Sampy, die alten Götzen, als Wächter auf Erden zu dienen.
Die Leute behaupteten, dass das Paar das Kind gleich nach der Geburt ausgesetzt hatte, um sich die Flucht zu erleichtern. Die Fischer des kleinen Dorfes nannten dich Aina, das bedeutet so viel wie ›Die, die lebt‹.«
Aina musste unwillkürlich an den Segeltag mit Raik denken. Hatte der nicht damals behauptet: »Zeit, das ist Leben«? Und hatte sie nicht geantwortet: »Da ist noch mehr. – Zeit, das ist Liebe«?
Der Vater nahm erneut einen Schluck Wein. Jetzt war Frau Cortes an der Reihe, die Geschichte weiterzuführen.
»Dein Vater und ich wussten damals, dass wir nie eigene Kinder bekommen würden. In dieses kleine Menschenbündel hatten wir uns sofort verliebt, sodass wir spontan beschlossen, es zu adoptieren. Das gab zwar viel Bürokram und Behördenärger, aber schließlich willigte man ein. Die offizielle Suche nach deinen leiblichen Eltern blieb ergebnislos. – Und bis heute sind wir froh und auch stolz, so ein liebes und talentiertes Kind zu haben.«
Sie gab ihrer Tochter einen Kuss.
»Ein durchaus erwachsenes Kind!«, merkte der Vater an. Nachdenklich drehte Aina den Globus. Wie kommt man von Lübeck aus dahin? – Durchs Mittelmeer und den Suezkanal. Oder über die Westküste von Afrika und rund um das Kap der Guten Hoffnung. Ob es Raik mit seinem Segelboot schaffen könnte?
Sie leerte ihr Weinglas in einem Zug und sagte dann entschieden: »Adoption hin oder her, ich liebe euch. – Aber ihr dürft mir auch nicht böse sein, wenn ich euch eines Tages verlasse und meinen eigenen Weg gehe. Irgendwann werde ich mich auf die Suche nach meinen Wurzeln machen.«
Im Grunde genommen war für Aina diese Entscheidung schon während ihres Ravel-Konzerts an der Musikhochschule gefallen.
*
Kroll saß bis spät in die Nacht in seinem Büro und studierte die Akten ein weiteres Mal. Er kannte sie schon fast auswendig. Irgendwo muss er etwas übersehen haben, dessen war er sich sicher. Vielleicht fehlte nur noch eine Kleinigkeit, um dieses riesige Puzzle zusammenzusetzen.
Der Obduktionsbericht des Spezialisten vom Hamburger Tropeninstitut bestätigte eine tödliche Fremdeinwirkung durch ein seltenes Gift, das in Ostafrika bekannt war. Außerdem entdeckte der Fachmann den winzigen Einstich in der Hand des Mädchens.
Trotz all dieser Erfolge, es blieb wie verhext. Auch nach der geheimnisvollen Begegnung mit dem Fremden im St.-Annen-Museum konnte Kroll keine Fortschritte verzeichnen. Erschwerend kam hinzu, dass er sich in den letzten Wochen mit ganz anderen, neuen Fällen beschäftigen musste. Das Team der Regionalen Kriminalbehörde hatte Hochkonjunktur. Dennoch standen die ›Zettelmorde‹ für Kroll an oberster Stelle.
Er erhob sich und öffnete das Fenster, um frische Luft zu schnappen. Unten auf der Straße war nichts mehr los. Nur ein Liebespaar schlenderte an den erleuchteten Auslagen der Modeboutiquen vorbei. Resigniert stellte er fest, dass er sich die dort angebotene teure neue Wintermode nicht leisten konnte.
Plötzlich fiel ihm ein, dass der elegant gekleidete Mann während dieses merkwürdigen Gesprächs im St.-Annen-Museum irgendwann einmal in Zusammenhang mit einem alten Sprichwort von seiner ›Heimat‹ gesprochen hatte.
Sollte er ein Ausländer sein, der akzentfrei deutsch spricht?
Krolls Stirn juckte bedenklich. Er musste sich gleich mehrmals mit dem Daumen darüber fahren. – Moment mal, hatte Hopfinger neulich nicht davon gesprochen, dass dieser Goldschmied, dieser Adrianopal …,
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