Schattengott
diese Weite. Zur Nordseite hin lagen unter ihr die gewaltigen
Eisfelder des Beverins, davor der nur noch teilweise von Schnee bedeckte
Heinzenberg und die Gipfel der Surselva. Nach Süden reichte der Blick weit
hinein ins Engadin.
Sie blieb lange auf dem Gipfel. Von hier oben wirkte alles so
erhaben. Man konnte sich kaum vorstellen, dass unten im Tal irgendwo Sorgen
lauerten, dass dort drei Elternpaare in Angst erstarrt waren, weil ihre Töchter
nicht mehr nach Hause kamen. Hier, so nah am Himmel, war die Welt frei von
aller Schwere. Hier war der Moment ein einziges Sein im Ganzen. Dieser Ruf der
Berge war es, den sie im letzten Herbst vernommen hatte. Dieses Tönen der
Gipfel hatte sie in die Heimat ihrer Kindheit zurückgeholt.
Sie rollte die Felle zusammen, verstaute die Thermoskanne im
Rucksack und zog die Schnallen ihrer Stiefel fester. In kurzen Schwüngen fuhr
sie zurück in die Welt der Sorgen, Wünsche und Ängste.
* * *
Der Knall. Die Splitter. Das Blut. Die Augen des Vaters kalt und
leer. Tot. Die Mutter. Schreit. «Herr, verzeih uns, Herr, vergib uns.» Ihr
Hals. Ihre Augen. Das Blut unter dem Kruzifix. Sie ist tot.
Er lag in seiner Kammer und wischte sich den Schweiss von der Stirn.
Er sah die Bilder immer wieder. Als ob es gestern gewesen wäre, sah er sie.
Immer wieder sah er das Blut, hörte die Stimme der Mutter. Sah sie in ihrem
Blut liegen. Sah das Kreuz über ihren toten Augen. Sah den Heiland. Hörte die
Stimme des Lehrers. Fühlte seine kalte Hand auf seinem Rücken. Spürte den Ekel,
wenn er sich an ihn drückte. Wann endlich würde er davon erlöst sein.
Wann endlich?
11
«Die Botschaften tragen eine einheitliche Handschrift, und alle
Indizien kommen aus der Gegend.» Reto Beeli war inzwischen mit der Auswertung
der Wortgravuren fertig und präsentierte seine Ergebnisse beim
Montagmorgenmeeting.
«Kannst du sagen, woher genau?», fragte Malfazi.
«Die Steine, die Sabina in San Bernardino gefunden hat, sind aus
Kalkstein, sie könnten von der Beschaffenheit her aus der Gegend um die
Rheinschlucht bei Ilanz kommen, aber natürlich auch anderswo.»
«Und die Steintafel aus der Locanda Cardinello?»
«Ist aus Andeerer Granit.»
Malfazi blickte zu Heini. «Überprüft bitte, ob irgendwo so eine
Steintafel entwendet wurde.»
Heini nickte.
«Fingerabdrücke?», fragte Malfazi.
«Nur vom Wirt der Locanda», sagte Beeli.
«Also kein Fortschritt.»
«Am interessantesten sind die Botschaften an der Kirche», sagte
Beeli.
«Warum?», fragte Malfazi.
«Die sind völlig makellos. Wirkt fast so, als hätte jemand da eine
Schablone verwendet, durch die er durchgeritzt hat.»
«Ein anderer Täter?»
«Gut möglich.»
«Wie sieht’s aus, wollen wir die Fotos der Botschaften nicht doch an
die Presse geben?», fragte Heini. «Die Leute wundern sich doch eh schon, was
die Polizei da ewig an der Kirche macht und warum sie nicht mehr hochdürfen.»
«Nein, keine Veröffentlichung in der Presse», sagte Malfazi. «Der
Chef hat das ausdrücklich noch einmal bekräftigt. Er möchte keine
Trittbrettfahrer auf den Plan rufen. Und er möchte dem Täter keine Publicity
geben.»
«Und was passiert mit den Botschaften an der Kirche? Lassen wir die
stehen?», fragte Heini.
«Die Kirchturmwand ist bereits wieder verputzt», sagte Beeli, «die
Anweisung kam von ganz oben.»
«Und du meinst, da halten alle dicht?», fragte Heini.
«Bislang ist nichts zur Presse durchgedrungen.»
«Also ich weiss nicht …», sagte Heini.
«Da müssen wir gar nicht diskutieren», fiel ihm Malfazi ins Wort.
«Wie sieht’s mit den Ermittlungen vor Ort aus, Urs? Was hast du im Schams
herausgefunden?»
Urs Freisler schnäuzte sich die Nase und legte gemächlich sein
Taschentuch zusammen.
«Also», fing er an, «der alte Pfarrer in Mathon ist ein harter
Knochen, dem wohl im Laufe seines Pfarrerdaseins auch immer mal wieder die Hand
ausgerutscht ist. Aber für sexuellen Missbrauch gibt es keine Hinweise.»
«Hast du die Leute in den Dörfern direkt darauf angesprochen?»,
fragte Sabina.
«Nein, natürlich nicht. Ich hab das sehr dezent gemacht, mehr so
zwischen den Zeilen.»
«Und du bist dir sicher, dass niemand ihn schützt?»
«Ich hab wirklich viele Leute gefragt. Menschen, die ich seit
vierzig Jahren kenne. Niemand hat den Pfarrer in dieser Hinsicht belastet. Und
ausserdem hat er zumindest für Ostern ein Alibi: Er war bei seiner Nachbarin
zum Abendessen. Sie hat es bestätigt.»
«Wie sieht es mit
Weitere Kostenlose Bücher