Schattengott
Hinweisen aus Andeer aus?», fragte Malfazi. «Hat
jemand am Osterabend rund um die Kirche etwas beobachtet?»
«Wenig», sagte Freisler, «die Anwohner waren alle in ihren Häusern.
Immerhin hat sich ein Gast des Hotels Fravi gemeldet. Er hat eine Frau, auf die
die Beschreibung von Iris Grenz passt, gegen Viertel nach acht auf dem Friedhof
gesehen. Neben ihr stand ein schwarz gekleideter Mann, der eine schwarze Mütze
aufhatte. Er war grösser als sie. Das ist alles, was der Hotelgast mitteilen
konnte.»
«Hast du Kontakt zu ihm aufgenommen?», fragte Malfazi.
«Ja, ich habe mit ihm telefoniert.»
«Weitere Hinweise oder Beobachtungen aus Andeer?»
«Der Bademeister hat Iris Grenz ebenfalls in Begleitung eines
vermutlich schwarz gekleideten Mannes gesehen. Sie sind zusammen zum
Schwimmbadparkplatz gegangen.»
«Und, gibt es da eine genauere Beschreibung?»
«Nein, er hat die beiden nur von der Seite und von hinten gesehen.
Ein circa eins fünfundsiebzig bis eins fünfundachtzig Meter grosser Mann
zwischen fünfunddreissig und fünfundfünfzig, genauer kann er es nicht sagen.»
«Das bringt uns kaum weiter.» Malfazi schüttelte den Kopf. «Was ist
mit diesem Busfahrer? Hat sich da noch etwas ergeben?»
«Den können wir wohl endgültig von der Verdächtigenliste streichen»,
sagte Heini, «der hat ein wasserdichtes Alibi für Ostern.»
«Hat die Überprüfung der Fahrzeuge etwas ergeben?» Sabina blickte zu
Malfazi.
«Wir haben inzwischen vierhundert schwarze SUV s und Minibusse im
ganzen Kanton überprüfen lassen. An manchen sind wir noch dran, aber bisher hat
sich keine Spur ergeben. Mehr kann ich dazu noch nicht sagen. Gibt es bei euch
sonst noch was Neues?»
Sabina brachte alle auf den neuesten Stand bezüglich der Feiern auf
Carschenna. Heini legte seine Vorgehensweise bei der Facebook-Recherche dar,
und alle waren sich darüber einig, dass es richtig war, den drei jungen Männern
vorübergehend Personenschutz zu gewähren.
«Ihr überprüft die drei trotzdem?», fragte Malfazi.
«Ja, wir sind dran», sagte Heini, «aber es gibt keinerlei Hinweis
darauf, dass sie irgendwas mit dem Verschwinden der Frauen zu tun haben. Haben
alle drei Alibis für alle relevanten Tatzeitpunkte.»
Teil 2
«Denn dieser Tag ist ein Tag des Grimmes,
ein Tag der Trübsal und der Angst,
ein Tag der Wolken und des Nebels,
ein Tag der Finsternis und des Dunkels.»
Zefanja, 1,15
1
Sabina stand am Fenster und blickte auf die Berge. Auf den
Wiesen kämpften sich erste Blumen durch die feuchte Erde, in den Tälern stieg
der Wasserpegel der Flüsse. Jetzt, Mitte Mai, kam der Frühling mit aller Macht.
Über den Verbleib der drei Frauen gab es immer noch keine Anzeichen.
In den letzten drei Wochen hatte das ganze Team fieberhaft
weiterermittelt, ohne jedoch auf eine heisse Spur zu stossen. Mittlerweile
hatte die Medienpräsenz der Vermisstenfälle deutlich abgenommen; andere
Schlagzeilen beherrschten die Medien. Manche der Kollegen vom Spezialdienst 1
wandten sich wieder interkantonalen Themen zu: der organisierten Kriminalität,
dem Rotlichtmilieu.
Sabina setzte sich an ihren Schreibtisch und blätterte noch einmal
durch das Dossier, das sie heute erhalten hatte. Sie hatte sämtliche
Stein-Indizien ans Kunsthistorische Institut der Universität Zürich geschickt;
heute war endlich ein ausführliches Gutachten gekommen.
Die Buchstaben waren aus wissenschaftlicher Sicht eindeutig vom
Bündner Sgraffitostil inspiriert, der sich seit dem 16. Jahrhundert von
Italien her nach Norden ausgebreitet hatte. Der von Sabina eher intuitiv
empfundene Bezug zu römischen Grabinschriften wurde nicht bestätigt, aber auch
nicht ausdrücklich verneint. Alles in allem schloss das Dossier mit dem
Hinweis, es handle sich bei den Buchstaben um eine kreative Eigenschöpfung, der
keine historischen Vorbilder entsprächen, die aber durchaus von
kunsthandwerklichem Geschick zeugten.
Sabina stand auf und ging zu Heini hinüber.
«Das bringt uns leider auch nicht wirklich weiter.» Sie legte ihm
das Dossier auf den Schreibtisch.
«Es ist wie so oft bei Vermisstenfällen», sagte er, «erst wird mit
riesigem Aufwand ermittelt, und dann versickert es langsam.»
«Aber was können wir noch tun?», fragte Sabina.
«Wir könnten die Worte und die Indizien veröffentlichen. Ich habe
das Gefühl, dass auch Spescha langsam darüber nachdenkt.»
«Hast du mit ihm darüber gesprochen?»
«Gestern beim Mittagessen. Ihm war wohl vor allem wichtig,
Weitere Kostenlose Bücher