Schattengott
Aber wir
orientieren uns an der Leitfigur Jesus und an den alten Naturkulten, nicht an
den kirchlichen Normen.»
«Aber Maria geht doch oft in die Kirche», sagte Sabina.
«Ja, schon», sagte Buchli. «Aber jeder hat da eben seinen eigenen
Zugang. Das, was wir alle gemeinsam haben, ist die Liebe zur Natur und zu den
Klängen. Und zu Jesus.»
«Wer ausser Ihnen weiss von ihren Zusammenkünften?», fragte Heini.
«Es haben ein paar Leute mitgekriegt, Maurus hat an Weihnachten was
daheim erzählt, und seine Mutter hat es dann der Nachbarin erzählt und die
wieder jemand.»
«Und so hat es die Runde gemacht, dass da jemand auf Carschenna
Gottesdienste feiert?»
«Ja, die Leute denken dann ja immer gleich das Schlimmste: Heiden
und so.»
«Können Sie sich vorstellen, dass jemand Ihrer Gruppe Böses will?»
«Also», Buchli überlegte, «also ich wüsste gar nicht, wen so was
stören soll. Religion ist doch wirklich was Privates, das kann anderen doch
egal sein.»
«Ich bin Ihrer Meinung», sagte Sabina, «aber wir müssen davon
ausgehen, dass das Verschwinden der Frauen mit Ihren Kulthandlungen zu tun hat.
Und wir müssen davon ausgehen, dass alle Mitglieder Ihrer Gruppe gefährdet
sind. Können Sie die anderen auch noch herrufen?»
«Jetzt?»
«Ja bitte», sagte Sabina.
Etwa dreissig Minuten später kamen auch die beiden anderen
Mitglieder der Gruppe aufs Polizeikommando, Maurus Müller und David Battaglia.
Heini und Sabina unterhielten sich getrennt voneinander mit den
jungen Männern. Alles in allem bestätigten die beiden die Aussagen von Bruno
Buchli. Auch Müller und Battaglia schienen ernsthaft besorgt und stimmten dem
Personenschutz zu. Auf die Wortbotschaften, deren Inhalt Heini und Sabina den
Männern mitteilten, konnten sie sich keinen Reim machen. Nach mehr als zwei
Stunden verliessen sie das Polizeigebäude wieder. Sabina und Heini gingen in
die Kaffeeküche.
«Meinst du, dass einer davon etwas mit dem Verschwinden der Frauen
zu tun hat?», fragte Sabina und nippte an ihrem Kaffee.
«Nein, das war sehr authentisch, wie sie sich den Kopf zerbrochen
haben. Und ihre Bestürzung wirkte auch überzeugend. Trotzdem müssen wir das
natürlich überprüfen.»
«Ja klar.» Sabina nickte.
«Noch was vor am Wochenende?», fragte Heini, nachdem er auch einen
Schluck genommen hatte.
«Ich denke, ich mach morgen noch mal ’ne Skitour», sagte Sabina.
«Bald ist der letzte Schnee da oben weg, und dann muss ich wieder mindestens
sieben Monate warten.»
«Pass auf dich auf», sagte Heini und legte ihr die Hand auf die
Schulter. «Ich schau, dass ich jetzt heimkomm. Dort wartet ein herrliches
Saiblingsfilet auf seine Zubereitung.»
«Na dann, lass es dir schmecken», sagte Sabina.
«Mach ich», sagte Heini. «Und ruf du mich am Sonntagabend kurz an,
wenn du von der Tour zurück bist. Eine verschüttete Kollegin wäre das Letzte,
was wir jetzt brauchen können.»
10
Die Färbung des Himmels über dem Muttnerhorn kündigte schon früh
morgens einen prachtvollen Sonntag an. Sabina verstaute ihren Tee und zwei
Brote im Rucksack, nahm sich ein paar Ersatzkleider mit und fuhr mit dem alten
Lada bis weit über die Ortschaften hinauf. Sie parkte direkt am Beginn der
Skispuren und legte die Felle an. Der Weg führte auf den Rücken des Piz
Beverin. Das Einshorn, ein etwas niedrigerer Nebengipfel des Beverin, schien
ihr für eine Tour um diese Jahreszeit am besten geeignet.
Mit ihrem Vater war sie als Kind oft auf den Beverin gestiegen. Von
ihm hatte sie den Gipfeltrieb geerbt, dieses unbändige Sehnen, das sie immer
wieder zu neuen Bergtouren anfachte. Und er war es auch gewesen, der ihr in
einem einzigen Satz die Philosophie des Bergsteigens beigebracht hatte: «Der
Weg ist das Ziel.»
Sie kam schnell in ihren Rhythmus und nahm bald nichts mehr wahr
ausser ihren Skispitzen, der Spur vor ihr und ihrem Atem. In ihrem Kopf lief
die finnische Melodie ab und schob die Ski fast von alleine nach vorne – Sabina
folgte ganz einfach den Tönen.
Sie war schnell unterwegs und überholte mehrere Skigruppen.
«Nicht so schnell», hatte ihr Vater früher immer gerufen. Aber sie
war noch nie eine der Langsamen gewesen. Wenn der Berg vor ihr lag, dann gab es
für sie nur noch eins: hinauf!
In weiten Kehren führte die Spur nach oben. Rechts von ihr lag das
Zwölfihorn, daneben der Rappakopf. Die Luft war kalt und klar. Sabina stieg
ohne Pause durch und genoss erst auf dem Gipfel den Phantastischen Rundblick.
Sie liebte
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