SchattenGrab
Dr. Friedhelm Görlitz nachschauen, ob auch er schon ein in dieser Weise geschädigtes Chromosom hatte. Was sie fand, war durchaus interessant. Ihm fehlte ebenfalls ein Teilstück des kurzen Arms auf dem fünften Chromosom. Allerdings hatte sich das abgebrochene Stück an ein anderes Chromosom angelagert. Man nannte das eine balancierte Translokation. Die Menge des Erbmaterials veränderte sich dadurch nicht, sie blieb ausgeglichen. Dadurch war Dr. Friedhelm Görlitz gesund. Er hatte kein Katzenschreisyndrom. Aber er vererbte die Behinderung zu fünfzig Prozent weiter.
Soweit Nadja wusste, war aber kein anderer in der Familie an diesem Syndrom erkrankt. Hatte Justus, der Vater von Sophie, ebenfalls eine balancierte Translokation? Das stand zu vermuten, denn an eine zufällige Mutation glaubte sie in diesem Fall nicht. Das wäre noch mal spannend herauszufinden, dachte sie.
Plötzlich kam ihr eine vollkommen verrückte Idee. Sie schmunzelte. Genetik war etwas Tolles. Wenn sich ihre Vermutung bestätigte, wäre es Zeit, in eine ganz andere Richtung zu denken.
Im Haus der Görlitzens
Die Spurensicherung hatte bereits in der Nacht begonnen, das Haus von Dr. Friedhelm und Marianne Görlitz genauer unter die Lupe zu nehmen. Man hatte zunächst in Friedhelms Büro angefangen, den Schreibtisch gesichtet und in den frühen Morgenstunden auch den Safe geöffnet. Bisher war außer einer jährlichen Aufreihung von Tagebüchern nichts Interessantes zu finden. Und ob die Aufzeichnungen sie weiterbrachten, würde sich beim Lesen derselben herausstellen. Die Beamten der SpuSi hatten ihren Spaß mit Mariannes künstlerischen Ergüssen. Sie lachten über die Vielzahl der komischen Engel und amüsierten sich über die grellen Bilder, die fast alle in irgendeiner Form mit Wasser zu tun hatten. Mal in Töpfen, mal als See und in Wellen als Meer. Manchmal hatte sie ihre Engelsvisionen auch dort mit hineingezeichnet. Es hatte sich schon herumgesprochen, dass Frau Görlitz nicht ganz richtig im Kopf war. Ihr verwunschener Garten aber war eine Oase. Inmitten von Kräutern und blühenden Pflanzen hing zwischen zwei Bäume gespannt ihre Hängematte. So ein Kleinod mitten in der Stadt vorzufinden, war eine Seltenheit. Ein besonderer Zauber ging auch von dem Brunnen aus, der an der Seite aus Natursteinen gemauert dort wohl schon seit Jahrzehnten stand und immer noch Wasser führte. Man konnte einen Eimer hinunterlassen, eine Pumpe gab es nicht. Die Beamten stöhnten. Da würden sie auch hinuntermüssen, denn das Licht drang nicht bis zur Wasseroberfläche, und was sich darunter verbarg, konnte niemand sehen. Eine alte Pumpe befand sichjedoch etwas weiter hinten auf dem Grundstück, sodass man vermuten konnte, dass es hier einen unterirdischen Bach oder ein ganzes Brunnensystem gab. Im Keller des Jugendstilhauses war eine dritte Wasserstelle, die jedoch nur durch eine schwere Metallklappe zugänglich war. Ob es eine Verbindung zu den anderen gab, musste noch herausgefunden werden. Vielleicht existierten alte Hauspläne, auf denen man nachschauen konnte.
Marga Blume, die Psychologin, war inzwischen auch dagewesen und hatte etliche Fotos von Mariannes Artefakten geschossen und jedes ihrer Bilder abgelichtet. Auffällig war, dass das Wasser meist in der Farbe rot dargestellt war. Was meinte Marianne damit? Hatte es überhaupt einen Sinn? Feuerwasser? Brennendes Wasser? Oder gar blutiges Wasser?
Sie wollte sich Zeit nehmen, die Bilder auf sich wirken zu lassen und dann noch einmal mit Marianne sprechen. Zweifelsohne hatte die alte Dame ein künstlerisches Talent.
Es war nur sehr eingeschränkt auf zwei Richtungen fixiert: Wasser und Engel – manchmal in Kombination. Margas siebter Sinn signalisierte ihr, dass hierin eine Botschaft lag. Auf einer Pinnwand würde sie die ganzen Fotos nebeneinander betrachten können und vielleicht eine Eingebung haben.
Inzwischen hatten die Beamten auch den Dachboden des Hauses unter die Lupe genommen. Dort fand sich noch allerlei Spielzeug. Alte Autos, ein Schaukelpferd, eine Puppenstube und eine kleine Wiege mit Spitzenbettwäsche. Sogar die Babypuppe lag noch darin. An einem rostigen Eisenhaken hingen Pfeil und Bogen. In der Ecke war ein ganzes Schienensystem in großenund kleinen Kreisen aufgebaut, deren Weichen noch per Hand umgelegt werden konnten. Die Lok des großen Zuges funktionierte mechanisch. Sie musste mit einem Schlüssel aufgezogen werden.
Lars Stelloh von der Spurensicherung war fasziniert.
Weitere Kostenlose Bücher