Schattengreifer - Die Zeitenfestung
Bart vieler Sumerer. »Ihr sprecht von der Zeremonie heute Nacht«, sagte er. »Habe ich recht?«
Der Schreiber nickte. »Es ist so weit. Alle Vorbereitungen sind getroffen. Die Grabkammer ist vorbereitet, und nun …« Er blickte zur Seite, seufzte, dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu. »Ihr müsst wissen, mein Bruder gehört zu dem Gefolge unseres verstorbenen Königs. Er ist Teil der Dienerschaft und hat seit vielen Jahren im Palast seinen Dienst getan.«
Der Alte legte eine Hand auf die Schulter des Schreibers. »Ich fühle mit euch.«
Simon rückte vorsichtig noch ein Stück näher an die beiden Sprechenden heran. Hier war von einem bevorstehenden Unglück die Rede. Von etwas, das heute stattfinden sollte. Und Simon hoffte, dass der Vorgang, den die beiden Männer besprachen, in irgendeiner Weise mit Nin-Sis Schicksal zu tun haben könnte. Er winkte kurz seinen Freunden zu, die noch immer auf dem Platz auf ihn warteten, um ihnen zu verstehen zu geben, dass er vielleicht eine Spur entdeckt hatte. Dann spitzte er wieder die Ohren.
»Ich verstehe natürlich diese Zeremonie und habe große Achtung davor«, fuhr der Schreiber fort. »Es ist eine gute Tradition, dass die Dienerschaft ihren Herren in den Tod folgt, um ihnen dort weiterhin zu Diensten zu sein. Dies wird jedem aus der Dienerschaft eine Hilfe sein in dem Land ohne Wiederkehr. In diesem Reich der Dunkelheit und des Staubs wird es ihnen besser gehen, wenn sie noch immer unter dem Schutz unseres bisherigen Ulugs, unseres Königs, stehen. Dennoch … mein Bruder … er …« Der Mann blickte an dem Tempel empor. »Wir haben wunderbare Gespräche geführt, mein Bruder und ich. Nachts, wenn im Palast Ruhe eingekehrt war … Er wird mir fehlen. Gestern haben wir uns voneinander verabschiedet. Er habe keine Angst davor, den Becher zu nehmen und das Gift zu trinken, sagte er. Niemand habe Angst davor. Alle möchten den König im Jenseits wiedersehen. Und die Eltern freuen sich darauf, ihre Kinder mit in den Tod zu nehmen. Es ist eine Ehre für alle, sagt mein Bruder. Dennoch: Hier wird er mir fehlen. Die Stadt wird ärmer sein ohne ihn.«
Simon hielt den Atem an. Konnte es sein, dass er die Lösung des Rätsels um Nin-Si gerade erfahren hatte? Wenn Simon denSchreiber richtig verstanden hatte, dann war gerade erst der König dieser Stadt gestorben, und seine Diener sollten ihm in den Tod folgen. Gehörte Nin-Sis Familie vielleicht zur Dienerschaft am Hofe des Königs? Diese Überlegung würde zu ihrem gepflegten Äußeren und zu ihrer gehobenen Sprache passen. Zudem wusste Simon ja, dass Nin-Si durch die Hand ihrer Familie sterben sollte.
Alles passte zusammen!
Nin-Si sollte Teil dieses gemeinsamen Selbstmords werden. Möglicherweise hatten die Eltern diesen Schritt sogar in Nin-Sis Interesse beschlossen. Vielleicht wollten sie ihrer Tochter etwas Wunderbares ermöglichen, wenn sie Nin-Si mit in den Tod und somit weiterhin mit in den Dienst des verstorbenen Königs nahmen.
Deshalb hatte Nin-Si nichts verraten. Sie war kein Opfer eines Krieges, eines Anschlags oder eines Massakers. Sie sollte aus Liebe getötet werden. Von ihrer eigenen Familie. Und ihre hohe Erziehung hatte ihr verboten, ihre Eltern in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Sie wollte verhindern, dass sich vielleicht Wut oder Hass ihrer Freunde auf die Familie übertrug. Denn eigentlich hatten ihre Eltern nichts Verbotenes im Sinn. Im Gegenteil: Durch einen Becher Gift wollten sie eine Rettung Nin-Sis erwirken.
Simon hatte genug gehört. Es war an der Zeit zu handeln. So schnell er konnte, rannte er zu seinen Freunden zurück.
»Was hast du herausgefunden?« Neferti zitterte vor Ungeduld. »Wo ist Nin-Si?«
»Ich vermute, im Palast«, antwortete Simon, und dann berichtete er, was er erfahren hatte, und schilderte ihnen seineRückschlüsse. »Wir müssen sie finden, bevor sie mit ihrer Familie und den anderen Bediensteten des Königs in die Grabkammer geht«, schloss er seine Rede.
»Wenn es dafür nicht schon zu spät ist«, meinte Caspar. »Wir haben bereits viel Zeit verloren.«
»Lasst uns hoffen und Nin-Si suchen«, warf Moon ein.
Caspar blickte an dem riesigen Stufentempel empor. »Vielleicht ist sie dort? Wo sonst sollte eine Zeremonie stattfinden als in dem wichtigsten Tempel der Stadt? Kommt!«
Er lief voran zu der mittleren der drei Treppen, die als einzige vom Tempelhof bis zum obersten Heiligtum führte. Die beiden äußeren reichten lediglich bis
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