Schattengreifer - Die Zeitenfestung
zur ersten Plattform.
Die Freunde stiegen Stufe um Stufe die Anlage hinauf. Am liebsten wären sie gerannt, doch sie wollten nicht auffallen. Die Wachen, an denen sie vorbeikamen, bedachten sie nur mit kurzen kritischen Blicken, sie reagierten jedoch nicht auf die Gruppe.
Beinahe schien es, als wollte diese Treppe kein Ende nehmen. Simon versuchte, durch die Lichtlöcher, die überall in die dicke Mauer des untersten Stockwerks eingelassen waren, etwas vom Inneren des Gebäudes zu Gesicht zu bekommen, doch die Einlassungen waren zu schmal, ähnlich wie Schießscharten in einer mittelalterlichen Burg. Und so konnte er nur auf weitere Lehmziegel schauen, aus denen die Zikkurat erbaut war.
Endlich hatten die vier das Tor zum ersten Stockwerk erreicht. Gespannt traten sie ein. Eine riesige Halle tat sich vor ihnen auf. Ein dunkler Saal, in den kaum Licht fiel. In die Wände waren Nischen gebaut, in denen, von hohen Säulen herab, kleine Statuen auf die Besucher blickten. Skulpturen, die wohl sumerische Personen darstellten.
Die Besucher des Tempels knieten oder saßen auf dem Boden und boten ihren Göttern Opfer dar. Tierkörper wurden in Schalen gelegt und angezündet. Einige wenige Menschen opferten auch Weizen oder Getränke. Der Gestank der Brandopfer war kaum zu ertragen. Er nahm allen den Atem.
»Lasst uns gehen. Bitte!« Moon hielt sich die Hand vor das Gesicht. »Nin-Si ist ganz gewiss nicht hier.«
Schnell wandten sie sich ab und eilten nach draußen, wieder auf die Treppe zu. Die Aussicht war überwältigend, doch niemand von ihnen hatte einen Blick dafür übrig. Sie mussten Nin-Si finden, bevor sie von ihren Eltern den Giftbecher gereicht bekam.
Sie eilten zum nächsten Stockwerk, doch bevor sie es betreten konnten, versperrten ihnen zwei Wachen mit ihren Speeren den Weg.
»Wo wollt ihr hin?«
Caspar trat vor. »Wir suchen eine Freundin.«
»Nicht hier!«, war die schroffe Antwort der Wache. »Ihr wisst doch sicher, dass der Zugang zum Allerheiligsten nur den Priestern und unserem König gestattet ist. Und du willst mir doch nicht sagen, dass du der nächste König bist!«
Caspar lächelte. »Nein. Es ist nur …«
»Dann geht!«
»Wir …«
»Geht!«
Caspar sah sich Hilfe suchend nach seinen Freunden um. Simon schüttelte den Kopf und bedeutete ihm zu gehen. Doch wie es Caspars Art war, blieb er beharrlich: »Nur eine Frage, wenn ihr gestattet.«
Die Wache blickte ihn wortlos an.
»Wir sind Fremde, wie ihr euch sicher schon gedacht habt. Und wir haben gehört, dass …«
»Ja?«
»Dass euer König …«
Das Gesicht der Wache veränderte sich. Echte Trauer zeigte sich darin. »Vor einigen Tagen ist er verstorben, unser Ulug«, gab der Mann zur Antwort, und es schien beinahe, dass er erleichtert war, darüber reden zu können. »Ein prächtiger Herrscher. Er hat unsere Stadt zu dem gemacht, was sie heute ist.«
Caspar ließ nicht locker: »Und stimmt es, dass er heute in seine Grabkammer überführt wird?«
Die Wache nickte.
»Befindet sich die Grabkammer hier? In dieser Zikkurat?«
Das Gesicht der Wache versteinerte wieder. »Warum willst du das wissen?«
»Ich versuche nur, alles zu verstehen. Eure Bräuche und eure Riten.« Die Wache lächelte kurz. Caspars Worte schienen ihm zu gefallen. Auch der zweite Wächter fühlte sich sichtlich geschmeichelt.
»Ihr Sumerer seid ein interessantes Volk«, fuhr Caspar schnell fort. »So offen und freundlich und so begabt. Sicher können wir alle viel von euch lernen.«
»Unser König wird nicht in diesem Tempel bestattet«, verriet schließlich die zweite Wache. »Dieses Heiligtum ist allein unserem Mondgott Nanna vorbehalten. Nein, es wurde eine Grabkammer im Palast errichtet. Dort wird man ihn heute bestatten.«
Caspar verbeugte sich tief. »Ich danke euch. Ihr habt mir sehr geholfen.«
»Dann bitte ich euch zu gehen«, erwiderte die Wache, nun weitaus höflicher als kurz zuvor. Caspar, Simon, Neferti und Moon kamen dieser Bitte gern nach und eilten die zahllosen Stufen der Zikkurat hinunter.
»Wir müssen also zum Palast«, sagte Moon, als sie den Hof erreicht hatten.
»Und ihr glaubt, wir können dort so einfach hineinmarschieren?« Neferti sah ihn zweifelnd an. »Gerade jetzt, wo der König tot ist und alle Wachen ohnehin schon sehr nervös sind?«
Caspar sah sie gereizt an. »Hast du einen besseren Vorschlag?«
Gerade wollte Neferti ihm antworten, da unterbrach Simon die beiden. »Seht doch nur«, sagte er und schaute überrascht
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