Schattengreifer - Die Zeitenfestung
wusste gar nicht, wohin er zuerst gucken sollte. Ihm war, als liefe das gesamte Leben der Stadt auf diesem einen Platz ab. Wo sollten sie in diesem Ameisenhaufen Nin-Si finden?
Auch seine Freunde blickten sich ratlos um. Das hatten sie sich einfacher vorgestellt.
»Das ist hoffnungslos!«, klagte Neferti. »Ich dachte, wenn wir eine Frau sehen, die ein ähnlich kostbares Kleid wie Nin-Si trägt, dann bräuchten wir ihr nur zu folgen. Doch sieh dich um, hier gibt es unzählige schöne Kleider.«
Simon nickte. Das war ihm auch schon aufgefallen. Es war unmöglich, die Menschen nur aufgrund ihrer Kleidung einzuschätzen. Die meisten Männer und Frauen trugen Röcke, die ihnen über die Knie reichten. Doch sehr viele der Frauen hatten wunderschöne Kleider an, manchmal farbenfroh, manchmal schlicht. Er war unmöglich abzuschätzen, wer von ihnen einer vermögenderen Familie angehören mochte. Einzig die Soldaten mit ihren Umhängen aus Tierfellen waren eindeutig zu erkennen.
Simon seufzte. Sie wussten also doch zu wenig von Nin-Si. Sie hatten keinen einzigen greifbaren Anhaltspunkt für ihre Suche.
Und die Zeit verstrich. Nicht nur, dass die Sanduhr im Inneren der Zeitmaschine ihre Stunden zählte, die sie in der Stadt Ur verbringen konnten. Nein, der Schattengreifer war bereits auf dem Weg hierher. Vielleicht hatte er die Stadt sogar schon betreten. Und er wusste, wo er suchen musste. Er kannte ja Nin-Sis Geheimnis.
Allmählich breitete sich in Simon wieder das Gefühl aus, mit dem er am wenigsten umgehen konnte: Hilflosigkeit.
»Nin-Si, wo steckst du?«, flüsterte er und schaute sich noch einmal auf dem ganzen Platz um. Allerdings hatte er jetzt keinen Blick mehr für die Herrlichkeiten und Besonderheiten dieser Stadt. Es ging darum, einen Menschen zu finden. Einen ganz besonderen Menschen, der bereits in wenigen Stunden verloren sein könnte.
In dem Eingang eines Gebäudes neben der Tempelanlage entdeckte Simon einen Schreiber, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte und in seine Arbeit vertieft war. In Simon keimte ein Gedanke auf: Vielleicht kannte sich dieser Schreiber aus. Meist waren diese Männer Beamte, oft sogar Vertraute des Königs. Wenn sie Glück hatten, dann kannte er viele Familien in dieser Stadt und möglicherweise auch Nin-Si.
»Wartet hier«, bat Simon seine Freunde, bevor er sich langsam dem Schreiber näherte. Er lehnte sich gegen die Mauer und tat so, als stehe er nur zufällig hier herum, während er seinen Blick nicht mehr von der Arbeit des Mannes abwenden konnte. Mit einem dünnen Griffel ritzte der Mann winzige Zeichen in eine feuchte Lehmtafel. Strich um Strich entstanden dünne Symbole: die berühmte Keilschrift der Sumerer.
Durch Simons Körper jagte ein Kribbeln, als ihm klar wurde, dass er gerade einen der ersten Schreiber der Menschheit bei seiner Arbeit beobachtete. Simon verstand schnell, was der Schreiber notierte. Er war offensichtlich ein Protokollant, denn er schrieb den Namen des Mannes auf, der ihm gegenüberstand, und notierte den Inhalt der Krüge, die der Mann mit sich führte. Hier fand wohl ein Geschäft statt, oder vielleicht zahlte der andere Mann gerade seine Steuern.
Simon überlegte schon, wie er den Schreiber ansprechen könnte, als dieser plötzlich den Griffel zur Seite legte und sich mit verzweifeltem Blick seinem Gegenüber zuwandte.
»Belastet euch etwas?«, erkundigte sich der andere Mann voller Sorge. Und Simon war wieder einmal dankbar, dass er und die anderen Zeitenkrieger durch den Zauber des Schattengreifersimmerhin die Sprachen der Epochen, in die sie reisten, verstehen konnten.
»Ich möchte lieber nicht darüber sprechen«, antwortete der Schreiber. »Doch es zerreißt mir das Herz, und ich weiß nicht recht …«
Tränen zeigten sich in seinen Augen. Er legte nun auch die Lehmtafel zur Seite und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Simon rückte unauffällig an der Wand näher zu den beiden Männern heran.
»Es zerreißt mir das Herz«, wiederholte der Schreiber. »Natürlich war auch mir bewusst, dass dieser Tag kommen würde. Aber nun, wo es so weit ist …«
Sein Zuhörer ging in die Hocke und setzte sich neben den Beamten. Der Mann war sehr viel älter als der Schreiber. Seine Haut wirkte wie Leder, was sicherlich daher kam, dass er oft der direkten Sonne ausgeliefert war. Er trug einen Lendenschurz aus Fell und hatte sich ein Tuch wie ein Stirnband um den Kopf gebunden. Um sein Kinn kräuselte sich der typische lockige
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