Schattengreifer - Die Zeitenfestung
Verdacht. Vor allem in dem Moment, in dem sich das Gesicht auflöste und stattdessen ein typisch sumerisches Gesicht erschien.
Mit der Fackel in der Hand sah sich Christian erneut um. Der Tiger beobachtete ihn aus seinen grauen, leblosen Augen heraus.
Zu drei Seiten Felswände, kalt und nass. Und vor sich Gitterstäbe. Christian wagte sich näher heran. Er streckte sogar eine Hand aus, um die Gitterstäbe zu berühren. Wieder einmal rüttelte er daran. Heftiger als zuvor. Doch es nützte nichts. Sie gaben nicht nach.
Mit einem weiteren Blick auf den Tiger lehnte sich Christian nun sogar gegen zwei der Stäbe und steckte die Fackel noch einmal zwischen dem Eisen hindurch, um etwas außerhalb seines Gefängnisses erspähen zu können. Er wusste nichteinmal, was er zu sehen hoffte. Doch selbst wenn – es wäre vergeblich gewesen. Nackte Dunkelheit herrschte vor seiner Zelle.
Christian seufzte.
Der Tiger starrte ihn wartend an.
Christian startete einen erneuten Versuch. Er hielt die Fackel dicht an die Wand zu seiner Linken und schritt das Gestein langsam ab, die Fackel fest im Blick. Er hoffte auf einen Luftzug, der die Flamme zum Tanzen brachte. Er hoffte auf einen versteckten Gang, der ihn nach draußen führte, hoffte auf eine undichte Stelle in der Wand, an der er hätte graben oder in die er hätte hineinrufen können.
Doch auch diese Mühe war vergeblich. Es gab keine Fluchtmöglichkeiten für ihn.
Christian dachte an seinen Sohn. Wo mochte Simon sein? Ging es ihm gut? Hoffentlich hatte er Simon durch sein Auftauchen auf dem Schiff retten können.
Ein Geräusch riss Christian aus seinen Gedanken. Auch der Tiger hob interessiert den Kopf. Etwas kam auf sie zu. Aus der Dunkelheit.
Schwingen. Das Schlagen großer Flügel. Zumindest glaubte Christian, dass es sich bei dem Geräusch um Flügelschläge handelte.
Er sprang vor zu den Gitterstäben und schaute angestrengt in das Dunkel vor seiner Zelle. Seine Angst vor dem Säbelzahntiger hatte er völlig vergessen.
Und da – tatsächlich, er konnte etwas erspähen. Zwei winzige glühende Punkte, die im Dunkel rasch anwuchsen, während auch das Geräusch lauter und lauter wurde.
Christian starrte angestrengt in die Dunkelheit, die beiden Punkte fest im Blick.
Dann schrie er plötzlich auf. Er wusste, was dort auf ihn zukam. Und mit einem Satz sprang er von den Gitterstäben zurück und presste sich erneut gegen die Wand.
Der Himmel überzog sich mit einem glühenden Rot.
Simon schien es, als würde die Welt einen blutroten Vorhang über das senken, was sich heute Nacht hier abspielen sollte. Noch immer stand er mit seinen Freunden auf dem Tempelhof und machte sich Gedanken darüber, wie sie den Palast auffinden könnten.
»Hier gibt es so viele Prachtbauten in und um diese Stadtmauer«, sagte Neferti. »Wo sollen wir da anfangen, nach der Grabkammer zu suchen?«
Simons Blick fiel wieder auf den Schreiber, den er belauscht hatte. Noch immer war er in seine Tätigkeit vertieft, dieses Mal allerdings stand ein anderer Händler vor ihm. Einer, den der Schreiber augenscheinlich nicht so gut kannte.
Ein gutes Stück von den beiden entfernt entdeckte Simon einen hölzernen Handkarren, auf dem sich Früchte befanden. Niemand schien sich darum zu kümmern. Der Karren stand völlig verlassen dort und …
In Simon begann ein verwegener Plan zu reifen. Er sah von dem Karren zum Schreiber und dann wieder zum Karren zurück.
»Besorgt mir Kleidung«, wies er Caspar an. »Etwas, das mich wie einen Sumerer aussehen lässt. Und ein großes Tuch. Oder einen Teppich. Hauptsache groß.«
»Was hast du denn vor?«
»So genau weiß ich das auch noch nicht«, antwortete Simon und machte sich grübelnd auf den Weg zu dem Karren. Er stellte sich an die Deichsel, mit der man den Karren bewegen konnte, und wartete, ob ihn jemand ansprach. Doch kein Mensch schien Notiz von ihm zu nehmen, und er winkte seinen Freunden kurz zu. Moon und Neferti standen noch immer an der gleichen Stelle und beobachteten Simon mit fragenden und erstaunten Gesichtern.
Caspar huschte bereits zwischen den vielen Händlern herum, um etwas Passendes für Simon zu finden, allerdings nicht, ohne seinen Freund ebenfalls interessiert zu beobachten.
Dann ging alles blitzschnell: Simon griff sich die Deichsel und zog den Karren aus der Menge um die nächste Ecke, direkt auf den Schreiber zu. Der hatte gerade seine Notizen beendet und verabschiedete den Händler, dessen Waren er wohl gezählt und
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