Schattengrund
und der Schwarze Hirsch waren und sind im Grunde genommen die Versammlungsräume. Wenn etwas geschieht, geht man dorthin. Kiana hat Alarm geschlagen und alle setzten sich in Bewegung. Das ist so bei uns. Glauben Sie mir. Wir fragen nicht, woher jemand kommt. Wenn Not am Mann ist, steht Siebenlehen zusammen.«
»Das habe ich gemerkt.«
Leon hob die Hand. Er hörte, dass sich der Ton leicht verschärfte. »Es geht nicht um das, was nach Filis Verschwinden geschah.«
»Nein?«
»Wir sind an der Zeit davor interessiert.« Leon nahm Nico die Blätter ab und faltete sie auseinander. Sie ließ es starr vor Schreck geschehen. »Sie sind als Gast eingetragen. Zimmer neunzehn. Erster Stock. Zwei Türen neben Ihnen übernachtete Herr Kress, der Schornsteinfeger.«
Ihr Gegenüber runzelte die Stirn.
»Wir wüssten natürlich gerne, warum Sie ins Hotel gegangen sind, wo Sie es hier doch so schön haben.«
In Leons Stimme lag nicht der winzigste Hauch von Ironie. Er schaute sich einfach nur um – die kahlen Wände, das strenge Kreuz – und wartete auf eine Antwort.
»Wir hatten einen Rohrbruch«, antwortete der Pfarrer. »Das geschieht in schöner Regelmäßigkeit. Die ganze Heizungsanlage müsste mal ausgetauscht werden. Ich glaube, in den Wänden liegt sogar noch Blei. Aber Siebenlehen war schon immer eine arme Gemeinde. Für eine Grundsanierung haben wir nicht die Mittel. Es war ein sehr strenger Winter, vielleicht erinnern Sie sich. Wir haben geheizt, was der Kessel hergab, und trotzdem war das Weihwasser in der Kirche am Morgen gefroren. Dann fiel auch noch die Heizung aus. Die Handwerker konnten erst am nächsten Tag kommen, wir waren nicht die Einzigen, denen das passiert ist. Deshalb habe ich mir ein Zimmer im Schwarzen Hirschen genommen.«
»Wann war das?«
»Ich glaube, am Nachmittag, noch vor Einbruch der Dunkelheit. Ich habe meine Unterlagen mit rübergenommen, um an meiner Predigt zu feilen.«
»Haben Sie Fili an diesem Tag noch gesehen?«
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. »Nein.«
Nico beugte sich vor und nahm ihn ins Visier. »Oder gehört? Sie waren auf dem gleichen Flur wie Herr Kress, der Schornsteinfeger. Fili ist fast in ihn hineingerannt. Sie hat sich ziemlich aufgeregt. Sie muss aus einem der Zimmer im zweiten Stock gekommen sein.«
»Nein, auch da muss ich sie enttäuschen. Ich war vielleicht zu vertieft in meine Arbeit. Um sieben bin ich kurz hinunter in die Gaststube und habe zu Abend gegessen. Es war ziemlich voll, aber die Hausgäste hatten reservierte Tische. Zwei ältere Damen waren das und ein Ehepaar, das wohl immer über Weihnachten und Silvester hier ist. Ach ja, der Schornsteinfeger auch. Ich wunderte mich noch, dass er in Arbeitskleidung zum Essen kam.«
»Und sonst?« Nico wollte nicht glauben, dass keiner in diesem Haus auch nur irgendetwas bemerkt haben wollte.
»Der Bäcker und seine Frau. Die alte Krischek hat wohl auch kurz vorbeigesehen, um ihren Mann zu suchen. Den sie dort auch fand und freundlich hinausgeleitete, zurück auf die Pfade der Tugend.« Der Pfarrer lächelte. »An diesem Abend war eine Menge los. Die Leute froren zu Hause, die strenge Kälte war so etwas wie ein gemeinsamer Nenner. Alle litten darunter. Dem einen ist das Kleinvieh erfroren, die anderen hatten kein Wasser mehr, es bildeten sich Fahrgemeinschaften, denn nicht alle hatten damals schon Vierradantrieb. Der Schwarze Hirsch war in diesen Tagen so etwas wie eine Tauschbörse. Neuigkeiten, Brennholz, Wärme – Naturereignisse wie diese lassen die Menschen zusammenrücken.«
»War Fili wirklich nicht unten?«
»Nein, ich sagte es doch schon. Ich habe sie den ganzen Abend nicht gesehen. Es kann sein, dass es mir vielleicht entgangen ist. Meine Predigt hatte ja einen außergewöhnlichen Hintergrund. Der erste Sonntag im neuen Jahrtausend, da wollte ich natürlich den Leuten etwas Besonderes bieten. Etwas Philosophisches.« Er sah nachdenklich auf seine Hände. »Wie eitel und selbstgefällig ich doch war. Es wurde ein Trauergottesdienst. Wir haben auch für Sie gebetet. Ganz Siebenlehen hat das getan.«
»Echt nett«, murmelte Nico.
»Erst später am Abend, viel später, da war ich schon wieder auf meinem Zimmer, hörte ich, dass etwas nicht stimmte. Irgendein Aufruhr. Sie merken das, wenn es still ist und plötzlich etwas in Bewegung gerät. Im Haus, auf der Straße. Immer mehr Leute kamen. Autos fuhren vor. Ich wunderte mich und ging hinunter. Die ganze Gaststube war voll, übervoll. Trixi war
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