Schattengrund
passiert? Du glaubst, ich habe mir das alles ausgedacht?«
Die Antwort war in seinen Augen zu lesen. Sie riss sich los und tastete nach Filis Zeichnung. Sie wollte sie ihm unter die Nase halten, aber die Blätter fielen aus ihren tauben Fingern in den Schnee. Hastig bückte sie sich, um sie einzusammeln.
Er ging zwei Schritte weg von ihr, hob die Hände. Er wusste wohl selber nicht mehr, was er glauben oder sagen sollte.
»Geh nicht, Leon.«
Langsam richtete sie sich wieder auf. Er hatte ihr immer noch den Rücken zugewandt.
»Fili und ich, wir hatten doch einen Grund wegzulaufen.«
»Fili und … du?« Über die Schulter sah er sie noch einmal an. Seine Augen waren schmal geworden. Seine Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln, das Nicos erbarmungslos das Herz zerschnitt. »Zwei Kinder mit blühender Fantasie. Bei Fili zumindest entschuldige ich das. Kleine Mädchen, die sich vielleicht zu wenig beachtet fühlen, träumen schon mal von silbernen Rittern. Aber bei dir …« Er deutete mit dem Zeigefinger auf sie. »Du und deine Märchen und Geschichten, deine komischen Nachtwanderungen und Rätsel und plötzlichen Erinnerungen, wie soll ich dir glauben, wenn du jetzt sogar meinen eigenen Vater verdächtigst? Meinen Vater? Weißt du, was du da sagst?«
Sie steckte die Blätter weg. In Leons Miene war kein Funken Mitgefühl zu entdecken.
»Komm«, sagte er und streckte die Hand aus.
Nico wusste nicht, was diese Geste zu bedeuten hatte. Sie blieb reglos stehen. Leon kam einen Schritt auf sie zu, gewollt munter, gespielt fröhlich.
»Komm mit. Frag ihn selbst. Zeig mir, wie du das machst. Ich will noch was lernen von dir.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Lass uns zu ihm gehen. Er ist im Hirsch.«
»Dein Vater ist hier?«
»Ja. Schau hin. Siehst du das Licht? Wieder im zweiten Stock. Er ist erkältet und liegt im Bett, deshalb ist er dir bis jetzt entgangen. Aber das kannst du gleich nachholen.«
Er griff nach ihrer Hand. Nico riss den Arm hoch und wich aus.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Weil es nicht wichtig war, zumindest bis jetzt. Weil ich euch einander vorstellen wollte, wenn der passende Zeitpunkt gekommen war. Und der scheint mir jetzt da zu sein. Also los, komm. Sag es ihm ins Gesicht!«
Er griff wieder nach ihr und wollte sie mitziehen. Nico brauchte alle Kraft, um sich ihm zu entwinden.
»Hör auf! Leon! Was soll das?«
»Du hast doch eben noch gesagt, wie einfach es ist, diese Fragen zu stellen. Dann tu es jetzt! Zeig mir, wie du das machst – denn ich weiß es nicht !«
Die letzten Worte schrie er ihr ins Gesicht.
»Nein!«
»Warum nicht?«
Nico wusste die Antwort, aber sie kam ihr nicht über die Lippen. Weil ich dich mag, dachte sie. Mehr, als mir lieb ist. Weil es mir wehtut, Menschen zu verletzen. Vielleicht ist dein Vater nett, und …
»Weil ich nicht mehr weiß, was richtig und falsch ist.« Sie hörte die Worte, die sie sprach, aber sie kamen ohne Gefühl, weil sie keines mehr hatte. »Ich kenne ihn doch gar nicht.«
»Aber trotzdem verdächtigst du ihn.«
»Das tue ich nicht! Aber er war nun mal in diesem Zimmer und Fili kam nun mal von oben herunter und hatte einen Streit!«
»Dann sollten wir ihn fragen.«
»Ja«, sagte Nico. »Das sollten wir vielleicht. Es tut mir leid.«
»Es tut dir leid!« Sein kaltes Lachen schmerzte in ihren Ohren. »Ich wollte dir helfen, wirklich. Ich habe sogar einen Moment lang geglaubt, was du dir zusammengereimt hast. Es war ja gar nicht so abwegig. Ein gekritzeltes Bild mit einem wehenden Vorhang, da kann man eine Menge hineininterpretieren. Aber hast du dir mal überlegt, warum Fili dir nie gesagt hat, wer der schwarze Mann war?«
Nico schwieg.
»Weil es ihn nie gab. Er ist ein Hirngespinst! Kapier das endlich. Geht das in deinen Dickschädel hinein?«
Sie nickte. Sie fühlte sich, als ob sie in einen Brunnenschacht fallen würde. Tiefer und tiefer. Sie hatte Angst vor dem Aufprall. Aber sie würde Leon nicht den Gefallen tun, noch einmal vor seinen Augen zusammenzubrechen.
»Gute Nacht.«
Er drehte sich um und stapfte durch den Schnee auf den Schwarzen Hirschen zu. Nico blieb stehen und ließ sich zuschneien. Sie blinzelte wieder, weil ihre Wimpern ganz nass waren. Es musste Schnee sein, keine Tränen. Sie hatte keine Tränen für Leute wie Leon, Zach, Trixi, wie den Pfarrer und Leons Vater.
Sie hatte nur Tränen für Fili. Und vielleicht noch ein paar für sich. Als sie diesen Gedanken zu Ende gedacht
Weitere Kostenlose Bücher