Schattengrund
Und Angst. Ich hab sie noch mal gefragt. Sag die Wahrheit! Wovor bist du davongelaufen? Sie hat nur den Kopf geschüttelt. Sie sagt’s dem lieben Gott. Das waren ihre Worte. Sie sagt’s dem lieben Gott …« Nico schluchzt auf. »Da bin ich losgegangen.«
»Mach dir keine Vorwürfe.«
Doch, dachte Nico. Das tue ich. Sie rieb sich mit der Hand über die Augen, suchte nach Worten, hob die Schultern und ließ sie resigniert sinken.
»Jetzt ist es zu Ende. Aus. Alles dunkel. Ich habe keine Erinnerung mehr, was danach geschehen ist. Ich nehme an, Fili ist weiter in den Stollen gekrochen. Und ich habe versucht, alleine den Weg zurückzufinden und Hilfe zu holen. Dabei bin ich in die falsche Richtung gelaufen. Das war die Tragödie. Man hat mich auf dem Weg zum Brocken gefunden. Alle haben natürlich diese Gegend als Erstes abgesucht. Keiner hat an den Stollen gedacht, der ganz woanders lag. Ich weiß nicht, wie lange sie gebraucht haben, bis sie mich gefunden haben. Ich war schon im Delirium. Ich war halb tot und bin erst Tage später wieder in der Klinik zu mir gekommen. Da war Fili schon gestorben und ich hatte keine Erinnerung mehr an all das.«
»Es tut mir leid.« Leons Worte klangen ehrlich. »Das muss furchtbar für dich gewesen sein.«
»So furchtbar, dass ich es komplett ausgeblendet habe. Meine Eltern haben Siebenlehen nie mehr erwähnt. Kiana wurde zu einer fernen exzentrischen Verwandten, von der man sich am besten fernhielt. Ich habe immer geglaubt, dass es normal ist, keine Freunde zu haben und Angst vor Beziehungen. Jetzt weiß ich, dass es daher kommt, dass ich jemanden im Stich gelassen habe und mir das nie verzeihen konnte.«
»Angst vor Beziehungen?«, fragte Leon.
Nico sah zum Spielautomaten. Zweimal lucky witch , ein Halloween-Kürbis. Was wollte das Schicksal ihr mit dieser Kombination eigentlich sagen?
»Weiß nicht.« Sie begann, die Kruste von einem kalten Stück Pizza abzubrechen und in kleine Krümel zu zerlegen. »Vergiss es.«
Er stand auf und ging zum Tresen, um die Rechnung zu bezahlen. Was nun? Nico hatte ihre Erinnerung wiedergefunden, aber sie war auf der Suche nach dem wahren Schuldigen der Tragödie nicht weitergekommen. Sie faltete die Blätter aus dem Gästebuch so klein wie möglich zusammen und steckte sie ein. Wenn sie daran dachte, wer alles in jener Nacht im Schwarzen Hirschen gewesen war, wollte sie eigentlich auch gar nicht weitersuchen. War es nicht vielleicht besser, die ganze Sache wirklich auf sich beruhen zu lassen?
Die Reise nach Siebenlehen hatte sich schon allein aus dem Grund gelohnt: dass sie endlich die Wahrheit über ihre Rolle bei Filis Verschwinden herausgefunden hatte. Sie musste den Stein nicht mehr zurückbringen. Eigentlich reichte das doch. Sie war nicht schuld, sie hatte sogar helfen wollen. Jeder, der etwas anderes behauptete, wollte nur von seinem eigenen Versagen ablenken. Fahr nach Hause und vergiss Schattengrund, dachte sie. Und lerne, mit dir und dem was da oben passiert ist, klarzukommen.
Morgen würden die Straßen wieder frei sein. Ihre Mutter würde wie eine Furie im Dorf einfallen, ihr den Kopf waschen, sie ins Auto stecken und mit ihr zurück nach Hause fahren. Und dann würde das Leben weitergehen. Irgendwie.
Leon kam zurück. Er steckte sein Portemonnaie in die Hosentasche und sah sie aufmunternd an.
»Los geht’s.«
Nico stand auf. »Ich will jetzt nach Schattengrund zurückkehren. Ich gehe nicht mehr in den Schwarzen Hirschen.«
»Da wollte ich auch gar nicht hin.«
Er sah sich um. Der Mann mit dem Hund war verschwunden. Das Liebespärchen knutschte sich gerade halb unter den Tisch und verschwendete seine Aufmerksamkeit nicht an zwei Gäste, die nur am Tuscheln und Flüstern waren.
»Ich habe Fili gemocht. Und ich glaube ihr. Deine Geschichte klingt zwar haarsträubend, aber sie ist wahr. Ich will wissen, wer der schwarze Mann war. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen mit allen reden, die an diesem Abend im Schwarzen Hirschen waren. Und deshalb gehen wir jetzt zum Pfarrer. Einverstanden?«
Er hielt ihr die Hand hin. Nico nahm sie und in ihrem Herzen blühten wohl gerade Schneeglöckchen, Krokusse und Narzissen gleichzeitig.
Vierunddreißig
Das Pfarrhaus war klein und wurde von der Schneelast fast in den Boden gedrückt. Zumindest wirkte es so – denn das Haus war geduckt, niedrig, mit eingesunkenem Dachsattel und schiefen Wänden. Der Garten musste im Sommer ein Paradies sein: Es gab efeuumrankte Laubengänge,
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