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Schattengrund

Schattengrund

Titel: Schattengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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mit seinen rotierenden Walzen. Edelsteine, Zaubertränke, schwarze Katzen. Eine junge, schöne Hexe schwenkt den Zauberstab. Happy witch – goldene Buchstaben blinken auf, Lichter explodieren. Geldspielautomaten sind für Nico das Zuhause heimatloser Zocker. Traurige Gestalten, die mit einem schalen Bier auf die billigen Lichter starren und darauf warten, dass ein paar Euro doch noch zurückkommen von ihrer Reise ins Nirgendwo. Die Walzen stoppen. Zweimal Zaubertrank, einmal Edelstein. Verloren. Vorbei. Ein kurzes Spiel.
    Sie spürt Leons Wärme. Sie riecht Holz und Farn, den trockenen Geruch von Schnee und einen Hauch von Leder. Sie möchte in ihn hineinkriechen und nie mehr zurück in eine Welt, die Dinge wie Spielautomaten und Todesangst hervorbringt. Sie fängt seinen Blick auf und sieht Sorge in seinen Augen und Mitgefühl und etwas anderes, das dahinter verborgen liegt. Das sie verwirrt und beunruhigt, weil es einen Weg direkt in ihr Herz findet.
    »Denk nach«, flüstert er. »Geh weiter. Du kannst es. Du hast die Tür aufgemacht. Du musst nur noch hindurchgehen.«
    »Es ist furchtbar.«
    »Ich weiß. Erinnere dich. Es ist wichtig. Auch wenn du Angst hast – du bist sicher. Ich passe auf dich auf. Okay? Okay?«
    Sie nickt.
    »Wo ist Fili?«
    »Sie … Sie ruft nach mir.«
    Leon streicht ihr die Haare aus der Stirn. Er ist so betörend nah. Sie ist so froh, diesen Weg nicht alleine gehen zu müssen.
    »Die Tür. Ich sehe die Tür zum silbernen Grab. Ein in den Felsen getriebener niedriger Gang mit halbrundem Deckengewölbe. Versperrt wird er von einem Gitter aus geschmiedetem Eisen. Es hat eine Verzierung, sie sieht aus wie ein Symbol. Irgendwelche Werkzeuge.« Nico kreuzt die Unterarme. »So sah das aus, ungefähr.«
    Leon nickt. »Schlägel und Bergeisen. Eine Art Fausthammer und ein Meißel, mit dem die Bergleute den Fels bearbeitet haben. Ihr habt definitiv das Mundloch entdeckt – den Eingang des alten Stollens.«
    »Die Gitter ist zu, aber nicht abgeschlossen. Fili läuft in den Stollen. Wir haben kein Licht, keine Taschenlampe. Nach ein paar Metern wird es stockdunkel. Und dann … Oh mein Gott.«
    Nico schlägt die Hände vor die Augen.
    »Was war dann? Nico! Hör nicht auf! Geh weiter!«
    »Fili schreit. Sie ist gestürzt, hat sich den Knöchel verknackst oder so was. Ich finde eine Packung Streichhölzer in meiner Jackentasche, vom Feuermachen. Und einen Kerzenstummel aus dem Schwippbogen. Ich zünde ihn an. Wir sind in einer Art Höhle. Einem Raum mit geschlagenen Wänden, von dem mehrere Gänge abgehen. Ich setze mich neben sie. Es ist nicht ganz so kalt wie draußen vor der Tür, doch wir können dort unmöglich bleiben. Aber Fili will nicht zurück. Sie will einfach nicht zurück! Sie sagt, sie will den silbernen Ritter suchen. In einem der Gänge muss er sein. Wenn sie ihn gefunden hat, wird ihr niemand mehr wehtun.«
    »Wer hat ihr wehgetan? Wer?«
    »Ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Sie hat es nicht gesagt. »
    »Hat sie eine Andeutung gemacht? Hat sie gesagt, was ihr passiert ist?«
    »Sie war ein Kind! Sechs Jahre alt! Was weiß man denn da, außer, dass etwas wehtut und einfach furchtbar ist? Vielleicht hat sie sich ja auch geschämt. Viele Kinder suchen die Schuld erst einmal bei sich. Sie trauen sich nicht, etwas zu sagen oder sich zu wehren. Die meisten Missbrauchsfälle ereignen sich doch innerhalb der Familie oder im engsten Freundes- und Bekanntenkreis. In Siebenlehen kennt jeder jeden. Was kann da die Aussage eines Kindes schon anrichten? Nichts. Die Einzige, der etwas aufgefallen ist, war Kiana. Und die wurde hochkant rausgeschmissen und für den Rest ihres Lebens als Nestbeschmutzerin gebrandmarkt.«
    »Okay. Okay!« Leon nahm den Arm von Nicos Schulter. Genauso gut hätte er aufstehen und gehen können. Der Verlust von Wärme und Schutz tat Nico förmlich weh.
    »Wie ging es weiter?«
    »Ich hab sie gefragt, was sie macht, wenn wir den silbernen Ritter nicht finden. Sie hatte diese Möglichkeit gar nicht auf dem Schirm. Für sie war so klar, dass da oben im Stollen alle Probleme gelöst würden. Aber da war nichts. Nur Kälte und Dunkelheit. Jetzt begreife ich erst, wie groß ihre Enttäuschung gewesen sein muss. Sie hatte nur noch eine Hoffnung und selbst die wurde ihr genommen.«
    »Und dann?«
    »Wir sitzen im Dunkeln. Es sind Stunden vergangen. Irgendwann habe ich begriffen, dass wir sterben werden. Ich wollte zurück. Fili konnte nicht mehr laufen. Sie hatte Schmerzen.

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